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Friedenspreis 2012

Liao Yiwu

Der Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat den chinesischen Schriftsteller Liao Yiwu zum Träger des Friedenspreises 2012 gewählt. Die Preisverleihung fand am 14. Oktober 2012 in der Frankfurter Paulskirche statt. Die Laudatio hielt die deutsche Journalistin und Verlegerin Felicitas von Lovenberg.

Begründung der Jury

Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahr 2012 an Liao Yiwu und ehrt damit den chinesischen Schriftsteller, der sprachmächtig und unerschrocken gegen die politische Unterdrückung aufbegehrt und den Entrechteten seines Landes eine weithin hörbare Stimme verleiht.  


Liao Yiwu setzt in seinen Büchern und Gedichten den Menschen am Rand der chinesischen Gesellschaft ein aufrüttelndes literarisches Denkmal. Der Autor, der am eigenen Leib erfahren hat, was Gefängnis, Folter und Repression bedeuten, legt als unbeirrbarer Chronist und Beobachter Zeugnis ab für die Verstoßenen des modernen China.  

Das Manuskript seines Werks „Für ein Lied und hundert Lieder“, in dem er von der Entmenschlichung durch rohe Gewalt in chinesischen Gefängnissen erzählt, wurde mehrfach von den Behörden beschlagnahmt; er hat es immer wieder neu geschrieben und konnte es schließlich im Exil veröffentlichen. Als Volksschriftsteller im umfassenden Sinn steht er ein für Menschenwürde, Freiheit und Demokratie.

Preisverleihung

Reden

Wie sehr das Wort des Dichters dem noch stummen Gegenüber zur eigenen Stimme zu verhelfen vermag, zeigt sich vor allem dann, wenn die gesellschaftlichen oder politischen Umstände dem Menschen die eigene Stimme verweigern oder sie zum Schweigen bringen.

Gottfried Honnefelder - Grußwort
Gottfried Honnefelder
Grußwort des Vorstehers

Liao Yiwu verkörpert den Widerstand aus dem Gedächtnis heraus. Dieser Widerstand basiert auf einem Schrecken, „der auf einer tieferen Ebene angesiedelt ist als das lange Eingesperrtsein und die körperlichen Qualen“.

Felicitas von Lovenberg - Laudatio
Felicitas von Lovenberg
Laudatio

Heute möchte ich hier allerdings eine andere Todesnachricht verkünden, die Nachricht vom Tode des chinesischen Großreichs. Ein Land, das kleine Kinder massakriert, muss auseinanderbrechen – das entspricht der chinesischen Tradition.

Liao Yiwu - Dankesrede
Liao Yiwu
Dankesrede

Chronik des Jahres 2012

+ + + Syrien befindet sich im Bürgerkrieg. + + + Infolge einer Kredit- und Medienaffäre tritt der deutsche Bundespräsident Christian Wulff vom Amt des Bundespräsidenten zurück. + + + Wahl von Joachim Gauck zum 11. Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland. + + + Bei einem Gefängnisbrand in der honduranischen Stadt Ciudad de Comayagua sterben 355 Häftlinge. + + +


+ + + Nach der Aufdeckung der Anschläge der rechtsextremen Terrorgruppe NSU und der Aufdeckung verschiedener Ermittlungspannen kommt es in Deutschland zu grundsätzlichen Diskussionen über die Arbeit des Verfassungsschutzes. + + + In Griechenland, Spanien und Italien protestieren Bürgerinnen und Bürger gegen die Krisenpolitik der Europäischen Union und gegen die Politik der eigenen Regierungen. + + + Südafrikanischer Bergarbeiterstreik + + + Präsidentschaftswahlen in den USA: Der demokratische Amtsinhaber Barack Obama besiegt seinen republikanischen Herausforderer Mitt Romney. + + + Im Gazastreifen beginnt eine Militäroperation der israelischen Streitkräfte. + + ++ In Ägypten wird in einem Referendum unter anhaltenden Protesten eine islamisch geprägte Verfassung angenommen. + + + Bei einem Überfall mit Geiselnahme auf ein Einkaufszentrum in der kenianischen Hauptstadt Nairobi werden mehr als 70 Menschen getötet und etwa 300 verletzt. + + +

Biographie Liao Yiwu

Liao Yiwu wird am 4. August 1958 in Chengdu, der Hauptstadt der chinesischen Provinz Sichuan geboren, in der Zeit der großen Hungersnot, die durch die Kampagne „Großer Sprung nach vorne“ ausgelöst wird und bei der mehr als 36 Millionen Chinesen ums Leben kommen. Sein Vater, ein Hochschullehrer, bringt seinem Sohn bereits im Alter von drei Jahren das Lesen und Vortragen klassischer Lyrik und Prosa bei. 1966 wird der Vater während der Kulturrevolution als Revolutionsgegner angeklagt. Um die Kinder zu schützen, lassen sich die Eltern scheiden. Liao Yiwu lebt fortan mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in großer Armut.


Nach schwieriger Kindheit als Straßenkind und ohne die Möglichkeit eines regelmäßigen Schulbesuchs arbeitet Liao Yiwu anschließend zunächst als Küchenhilfe und Lastwagenfahrer. Mit der Lektüre von ins Chinesische übersetzter westlicher Literatur wächst sein Interesse an der Schriftstellerei, und er beginnt mit dem Verfassen eigener Gedicht. Nach dem Tode Mao Zedongs, dem Sturz der sogenannten Viererbande und dem damit einhergehenden Ende der chinesischen Kulturrevolution versucht er vier Jahre lang vergeblich, an der Universität aufgenommen zu werden. Er findet Arbeit bei einer Zeitschrift, wo er bald als wortgewandter Dichter auffällt und vom Kulturministerium in die Riege der Staatsschriftsteller aufgenommen wird.

Während der 1980er Jahre publiziert Liao Yiwu regelmäßig Gedichte in offiziellen chinesischen Literaturzeitschriften. Zahlreiche seiner Gedichte im Stile westlicher Lyrik veröffentlicht er jedoch in Anthologien und Periodika der im Untergrund tätigen Literaturszene, da die chinesischen Behörden sie als „geistige Verschmutzung“ ansehen. 1987 wird er aufgrund dieser Veröffentlichungen auf die „Schwarze Liste“ gesetzt. Als er im Frühjahr 1989 mit der Veröffentlichung der Gedichte „Die gelbe Stadt“ und „Held“ das paralysierte System Chinas allegorisch als kollektive Leukämie und Mao als das Symptom dieser Krankheit bezeichnet, wird er mehrmals verhört und seine Wohnung durchsucht.

Unter dem Eindruck der im ganzen Land aufkommenden Unruhen während der Massendemonstrationen auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“, dem „Tian’anmen-Platz“, verfasst Liao Yiwu das Gedicht „Massaker“, in dem er, in der Nacht vor dem tatsächlichen Vorgehen der chinesischen Armee gegen die Protestierenden am 4. Juni 1989, das Geschehen vorwegnimmt. Da er keine Möglichkeit einer Veröffentlichung sieht, nimmt er am gleichen Tag das Gedicht auf Tonband auf, Kopien werden im ganzen Land verbreitet. Unter dem Titel „Requiem“ arbeitet Liao Yiwu anschließend an einem Film über die Ereignisse. Im Februar 1990 werden er, die Filmcrew und seine schwangere Frau verhaftet. Als politischer Häftling wird er wegen „Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda“ zu einem vierjährigen Freiheitsentzug verurteilt.

Im Gefängnis lehnt sich Liao Yiwu immer wieder gegen die Wärter auf, widersetzt sich der Gefängnisordnung, wird von der Gefängnisleitung bestraft. In seinen verschriftlichten Erinnerungen an diese Zeit berichtet er später von den Regeln und Bestrafungsritualen der hierarchisch streng organisierten Mitgefangenen, von Krankheiten, Peinigungen und zwei Selbstmordversuchen. Aufgrund internationalen Drucks, offiziell wegen „guter Führung“, kommt Liao Yiwu 1994, knapp fünfzig Tage vor dem Ablauf seiner Gefängnisstrafe, frei.  

Die Inhaftierung und die Erlebnisse in den vier Gefängnissen, in denen er seine Haft verbüßt, haben Liao Yiwu aus seinem bisherigen Leben herausgerissen. Die Aufenthaltsgenehmigung an seinem Wohnort wird ihm entzogen, seine Frau hat ihn mit dem gemeinsamen Kind verlassen, die Freunde und Schriftstellerkollegen wenden sich von ihm ab. Mit seinem einzigen Besitz, einer Flöte, die er im Gefängnis zu spielen gelernt hat, verdient Liao Yiwu – der seitdem unter steter Überwachung der Polizei ist – seinen Lebensunterhalt als Straßenmusiker und verdingt sich als Gelegenheitsarbeiter in Restaurants, Teehäusern und Buchläden.

1998 stellt Liao Yiwu unter dem Titel „Der Untergang des Heiligen Tempels“ eine Anthologie von im Untergrund geschriebenen Gedichten zahlreicher chinesischer Dissidenten der 1970er Jahre zusammen. Die Behörden ordnen eine Untersuchung an und bezeichnen das Buch als „vorsätzlichen Versuch, die Regierung zu stürzen“. Liao Yiwu wird erneut inhaftiert, sein Verleger bekommt ein einjähriges Publikationsverbot.

Die Begegnungen mit Mitgefangenen und mit den Menschen, die er als Straßenmusiker und Gelegenheitsarbeiter kennengelernt hat, versammelt Liao Yiwu 1998 in Form von 60 Interviews. In bereinigter Form erscheinen diese 2001 bei einem chinesischen Verlag unter dem Titel „Interviews mit Menschen vom unteren Rand der Gesellschaft“. 2009 wird dieses „Panoptikum an Lebensläufen, die eigentliche Kulturgeschichte Chinas von Mao bis zum heutigen Tag“ (Herta Müller), in Deutschland ungekürzt veröffentlicht („Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten“). Seine Gespräche mit einem Mörder, Totenliedersänger, Dieb, Klomann, Menschenhändler, Wahrsager, Homosexuellen, Bettler, Lehrer, Dissidenten, früheren Landadligen, Zuhälter, Feng-Shui-Meister und vielen anderen Menschen aus den unteren Gesellschaftsschichten zeichnen die Wirklichkeit der Gegenwart Chinas nach. Das Buch wird somit zu einem Porträt des Landes jenseits der offiziellen Darstellungen.

Die „bereinigte“ chinesische Version des Buches wird von den Kritikern hoch gelobt und verkauft sich gut, bis die chinesischen Behörden den Verkauf untersagen, den Verlag bestrafen und für die Entlassung von Mitarbeitern einer chinesischen Zeitung sorgen, die ein Interview mit Liao Yiwu geführt haben. Fortan darf sein Name in den Medien nicht mehr genannt werden. 2002 gelingt es, das Buch nach Taiwan zu schmuggeln, wo es ein Jahr später in drei Bänden veröffentlicht wird. Auszüge daraus erscheinen auch auf Englisch und Französisch. Liao Yiwu erhält 2003 mit dem Hellman-Hammet-Grant eine Förderung der Organisation Human Rights Watch. 2007 wird er mit dem Freedom To Write Award des Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrums ausgezeichnet. Die Verleihung wird aber verhindert. 2008 erscheinen 27 der Gespräche in den USA mit dem Titel „The Corpse Walker – Real Life Stories: China From the Bottom Up“. Für die polnische Ausgabe des Buches erhält er 2012 den Ryszard-Kapuscinski-Preis. In „Chronik des Großen Erdbebens“, das 2009 in Hongkong erscheint, veröffentlicht Liao Yiwu die Interviews, die er 2008 mit den Menschen geführt hat, die das große Erdbeben in der Region Sichuan mit mehr als 80.000 Toten überlebt haben, und die ihm über die Korruption berichten und Gerechtigkeit fordern.

Nach mehreren vergeblichen Versuchen kommt Liao Yiwu in den Besitz eines Reisepasses. Trotzdem wird ihm im Oktober 2009 die Reise zur Frankfurter Buchmesse, auf der China Ehrengast ist, verweigert. Auch eine Teilnahme an dem Kölner Literaturfest lit.cologne im Frühjahr 2010 wird nicht zugelassen, am Flughafen wird Liao Yiwu festgenommen und stundenlang verhört. Ein öffentlicher Appell an Bundeskanzlerin Merkel führt schließlich dazu, dass er im September erstmals aus China ausreisen und am Internationalen Literaturfestival in Berlin teilnehmen kann. Nachdem ihm jedoch im Mai 2011 abermals eine Ausreise aus China verweigert wird, setzt sich Liao Yiwu im Juli 2011 über Vietnam nach Deutschland ab.

Um das Leben von Liao Yiwu nicht in Gefahr zu bringen, hält sein deutscher Verlag die Veröffentlichung seines Buches „Für ein Lied und hundert Lieder“, wofür dem Autor durch chinesischen Behörden eine erneute Gefängnisstrafe angedroht wird, bis zu seiner Flucht zurück. Es ist die Übersetzung der dritten Version seiner Erinnerungen an die vierjährige Gefängniszeit von 1990 bis 1994. Immer wieder hat er sie von vorn beginnen müssen, weil die von ihm verfassten Manuskripte 1995 und 1997 bei Hausdurchsuchungen beschlagnahmt wurden. Dem Leidensweg durch die chinesischen Gefängnisse und Arbeitslager stellt Liao Yiwu die Wucht seines Gedichtes „Massaker“, dem Grund seiner Inhaftierung, voran. Das Buch, das im November 2011 mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wird, wird dadurch zu einem „politischen Zeugnis erster Güte“ (Neue Zürcher Zeitung), mit dem Liao Yiwu den Menschen, die das politische System zum Schweigen bringen will, eine Stimme gibt. Im gleichen Jahr erscheint in Deutschland eine Sammlung zum Teil noch nicht veröffentlichter Gedichte unter dem Titel „Massaker: Frühe Gedichte“. 

2012 erhält Liao Yiwu ein einjähriges Stipendium des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Von Berlin aus setzt er sich mit einem öffentlichen Appell für seinen Freund, den chinesischen Untergrunddichter und -schriftsteller Li Bifeng ein, der seit Monaten inhaftiert ist und dem wegen sogenannter „wirtschaftlicher Straftaten“ eine Verurteilung droht. Am 14. Oktober 2012 wird er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt. Ende des Jahres wird in Deutschland sein neues Buch „Die Kugel und das Opium – Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens“ erscheinen.

Auszeichnungen

2013 Aschaffenburger Mutig-Preis 
2012 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
2011 Geschwister-Scholl-Preis für Für ein Lied und hundert Lieder
2011 Hörspiel des Jahres für Vier Lehrmeister
2007 Freedom to Write Award des unabhängigen PEN-Zentrums China
2003 Hellman-Hammet-Grant von Human Rights Watch

Bibliographie

Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand

Texte aus der chinesischen Wirklichkeit. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2019, ISBN 978-3-10-397446-1, 12,00 €

Drei wertlose Visa und ein toter Reisepass. Meine lange Flucht aus China

aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann und Brigitte Höhenrieder, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018, 528 Seiten, ISBN 978-3-10-397288-7, 26,00 €

Die Wiedergeburt der Ameisen

aus dem Chinesischen von Karin Betz, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016, 576 Seiten, ISBN 978-3-10-044817-0, 28,00 €

Mehr anzeigen

Gott ist rot

Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015, 352 Seiten, ISBN 978-3-596-19325-7, 11,99 €

Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch. Geschichten aus der chinesischen Wirklichkeit

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014, 496 Seiten, ISBN 978-3-596-19655-5, 12,99 €

Die Kugel und das Opium. Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens

Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014, 432 Seiten, ISBN,: 978-3-596-19500-8, 10,99 €

Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen

Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, 592 Seiten, ISBN 978-3-596-19000-3, 12,99 €

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser. Chinas Gesellschaft von unten

Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann, Karin Betz und Brigitte Höhenrieder, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, 544 Seiten, ISBN 978-3-596-18525-2, 10,95 €

Laudatorin Felicitas von Lovenberg

Felicitas von Lovenberg, geboren 1974 in Münster, ist seit 2016 verlegerische Geschäftsführerin des Piper Verlags. Sie arbeitete von 1998 bis 2008 zunächst als Redakteurin im Feuilleton und später als Redakteurin für Literatur und Literarisches Leben bei der FAZ. Seit 2017 ist sie Mitglied im Vorstand des Börsenvereins, den sie im Stiftungsrat vertritt. Für ihre Arbeit erhielt Felicitas von Lovenberg u.a. den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik, den Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik und den Julius-Campe-Preis.