Carl Jacob Burckhardt
Auf den Preisträger 1957
Laudatio auf Thornton Wilder
O Doctor optime, aggrediar opus difficillimum nunc te precor ut me orationibus tuis juves. (Ich bitte Dich, bei meiner schweren Aufgabe mich in Dein Gebet einzuschließen.) So beginnt die Anrufung des heiligen Hieronymus, des Patrons der Übersetzer und der Interpreten. Kunst ist Interpretation, und auch mit der leichtesten Äußerung über Kunst versuchen wir Interpretiertes wiederum zu erläutern, immer ein vermessenes Unterfangen.
Eines aber hilft mir heute über alle Bedenken hinweg, das ist die Freude. Dem Wort Freude ist das deutsche Wort Friede nah verwandt, und verwandt ist es mit Freund, der ursprüngliche Sinn aber des Wortes Friede bezeichnet einen Zustand der Freundschaft und der Schonung. Freundschaft und an den Menschen ein ernstes Wohlgefallen stehen wie ein Sternbild über Ihrem ganzen Werk.
Und diese Ihre Grundhaltung bleibt bestehen, auch wenn Sie Welt und Menschen im strengen Licht der Wahrheit betrachten. Sie wähnen nicht, daß die Wahrheit töte, weil sie für die Menschen zu gewaltig sei, Sie wissen und lassen es eines Ihrer Geschöpfe sagen, daß die Wahrheit schließlich die Welt und alle, die in ihr leben, stärken müsse, und Sie durften es aussprechen, daß alle Liebe eins ist und selbst der Geist, mit dem Sie dies zu erkennen vermögen, einzig von Liebe erweckt, genährt und belebt wird.
Mit dem Manne, dessen dunkel brennender Jünglingsblick uns trifft, jedesmal, wenn wir in der Stadt Frankfurt versammelt sind, ist Ihnen der Drang des Zufälligen und Unzusammenhängenden zum Zusammenspringen in sinnvolle Form bewußt, und Goethes Lehre von der Gestaltung ist Ihnen tief vertraut. Im Goethejahr 1949 haben Sie in Aspen in unvergeßlicher Weise darüber zu den Studenten gesprochen. Mit Goethe teilen Sie die Einsicht, daß die Formen, denen alle Dinge zuströmen, zwar nicht im platonischen Sinne vorausbestimmt sind, daß aber das große formschaffende Wirken nie zu Ende kommt und daß jener, der gesagt hat: »Das ewig Wirkende bewegt uns unbegreiflich«, eine Gewißheit besaß, die es ihm ermöglichte, umstarrt von der Furchtbarkeit der Welt, völlig furchtlos bis zum letzten seiner Erdentage schöpferisch tätig zu bestehen. Sie haben ausgesprochen, wie, von der wirkenden Kraft getragen, Goethe uns die Augen für die kommenden Weltalter öffnete und wie er, gewohnt, als Kenner der Natur, in Jahrmillionen zu denken, über alles Geschichtliche sich erhebend, Helena mit Faust vermählte, im souveränen Vermögen der Gleichzeitigkeit, der Ubiquität. Er hat dabei niemals verächtlich ausgelöscht, um leer gewordene Stellen mit seiner eigenen Schrift auszufüllen, sondern jedem Besonderen und Individuellen stand er mit freudiger Aufmerksamkeit gegenüber, weil auch in den Weiten seiner Weltschau jedes jemals Gewordene seine Bedeutung für immer bewahrte, er wußte, wie die Spannung, die vom einen zum andern wirkt, wie in der Natur das Ganze zusammenhält. Wieviel seiner großen, die Zukunft vorausgreifenden Vision hat sich in der Folge jenseits der Meere verwirklicht, Faustische Vision und sodann als ein Zusammenspringen des nur scheinbar Unzusammenhängenden: Weltliteratur.
Weite und Weltsinn wirken im großen amerikanischen Schrifttum seit dem letzten Jahrhundert. Unsere geistigen Güter werden übernommen und werden uns mit wunderbarer Frische zurückerstattet. In diesem Schrifttum des andern Kontinents ergreift uns vorerst Frömmigkeit, Frömmigkeit bis zu den Blasphemien eines bösen, manichäischen Gottes, die uns ein Prediger, den Schiffsschnabel als Kanzel benutzend, entgegenschleudert. Dichterische Ursprünglichkeit herrscht, unbändige Naturkraft, anders als bei den großen Russen, aktiver und niemals ohne das ständig vorhandene Gefühl sozialer Verantwortung. Vollendern der großen moralistischen Lehren begegnen wir und neben diesen schon jenen Pragmatisten, die einen so bestimmenden Einfluß auf spätere amerikanische Entwicklungen ausüben sollen. Nach dem goldenen Zeitalter aber in Neu-England, der Epoche Emersons, Hawthornes Thoreaus, Melvilles und Whitmans, nimmt dann die amerikanische Literatur während des vergangenen halben Jahrhunderts nach der viktorianischen Epoche umwälzenden Charakter, radikal-rebellierende Haltung an, und dennoch bleiben in ihr große Konstanten immer erkennbar: die Erbschaft des Puritanismus, egalitärer Demokratismus, stets wache Aufnahmebereitschaft für die Ideen und die Kunst Alteuropas, insbesondere jene Englands und Frankreichs. In jeder Dekade unseres Jahrhunderts sind vor allem Romanschriftsteller von mächtiger schöpferischer Vitalität in Erscheinung getreten, in deren Werken ein ungeheurer Bewußtseinswandel Amerikas beständig gültigen Ausdruck findet: Ende der Pionierzeit, fieberhafter Einbruch der Industrialisierung, der wissenschaftlichen Technik, des Hochkapitalismus. Während die Massen sich mit ungebändigter Lebenskraft allen modernen Formen des Erwerbes hingaben, erfaßten die Intellektuellen die von Europa hereinflutenden Ideen von Darwin, Thomas Huxley, Comte und Spencer und wandten sich von all demjenigen ab, was noch vom idealistischen Transzendentalismus, etwa eines Emerson, weitergelebt hatte. Nach den noch gemäßigt realistischen Romanen William Dean Howells war der Bruch mit der »genteel tradition« eingeleitet, der dann mit den robusten Romanen von Frank Norris, Stephen Grane, D. G. Phillips und Jack London radikal vollzogen wurde. Der schwerblütige Deutsch-Amerikaner Theodor Dreiser hat in wenig künstlerischer, aber stoffmächtiger Weise den fatalistischen Naturalismus auf seinen Höhepunkt geführt, während Upton Sinclair in zahllosen Romanen, enthüllend, richtend, vor allem anklagend einen leidenschaftlichen Kampf führte für Menschenrechte, Gerechtigkeit und Menschenwürde angesichts der gesellschaftlichen Machtgebilde. In Sinclair Lewis fand der amerikanische Realismus den Satiriker und Karikaturisten.
So düster auch das Bild ist, das diese Naturalisten und Realisten vom amerikanischen Leben entwarfen, so lebte doch in ihren Werken ein unerschütterlicher Glaube an den Menschen und an die Möglichkeiten der Überwindung der Übel. In der Generation aber, die den Ersten Weltkrieg mitgemacht hat, endete dann diese immer noch optimistische, diese melioristische Haltung bei den begabtesten Dichtern in tiefer Enttäuschung. Die verlorene Generation, »the lost generation«, wie sie sich nach einem Wort von Gertrude Stein nennen ließ, empfand das ganze Geschehen, dasjenige, was der einzelne erlebt hatte, als das Wirken eines völlig blinden und sinnlosen Geschicks. Nihilistische, anarchistische Züge sind unverkennbar in den führenden Werken von Hemingway, Dos Passos und Scott Fitzgerald, aber die künstlerische Form hebt sich, der die Enthüller, Reformer und Aufklärer wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatten; artistische Probleme, die Schaffung einer neuen, konzisen, intensiven Sprache traten in den Vordergrund. Mitten in dem ungeheuren Kampf um eine Lösung des ökonomisch-sozialen Problems wurde es schwer, in Amerika ein junger Dichter zu sein. Viele Dichter wanderten aus nach dem alten Kontinent, lebten in einem besonderen Kreis, einer Gemeinde, die sich in Italien, in London und Paris ohne Zusammenhang mit den zu Massen sich häufenden Zeitgenossen in einer eigenen intellektuellen Sprache verständigen, einer Sprache, die bis zur höchsten Lyrik reicht und bis zur grellen, unerbittlichen Konfrontation mit dem Übel. Vielfach am Rande der Verzweiflung, bringen diese Dichter alle Ingredienzien Alexandriens, Indiens, Persiens herbei, suchen sie Betäubendes, bisweilen Schmerzstillendes, die innig-zarte Strenge der Trecentisten, die bis zur Verwegenheit kühne Fülle der Elisabethaner, Selbstgespräche der späten Franzosen; hervorkommend aus dem Synkretismus des 19. Jahrhunderts verschmelzen sie alle Stile und Zeiten oft zu zauberhafter Materie. Sie verarbeiten religionsgeschichtliche Forschungselemente, versuchen es, einst gelebte Weihen, längst verrauschte Ekstasen zu beschwören, und doch immer ist es noch menschliche Sehnsucht, die sich durch so viel alte Symbole in unsäglicher Unruhe, Angst und Entzückung hindurchtastet, vorbei an der Welt der »sweenies«, der Welt der sogenannten Wirklichkeitsmenschen. Maskenhafte Götter gehen um in solchen Werken: Eros und Thanatos, leib-seelische Bedrängnis schaffend, Wonne und Qual, Bedrängnis der ans Somatische gebundenen Psyche, die doch nicht die Seele ist, sondern immer noch das der Psychologie zugängliche, und noch nicht das große, sich jeder Definition entziehende Dritte, das Pneuma.
Es entstünde ein einseitiges Bild, wollte man den Blick allein auf exzessiv realistische Werke lenken, auf rebellierende, desillusionierende Romane und Bühnenstücke oder einseitig auf die dem Gefängnis der Psychologie verhafteten, mit höchsten Kunstmitteln gesteigerten Werke. Es hat während dieser Epoche in Amerika auch immer eine gedämpfte, stillvisionäre Dichtung gegeben, die ein ganz anderes, innerliches Menschenbild gezeichnet hat. Ich denke an Henry James und seine Schülerin Edith Wharton. Ich gedenke der Reihe bedeutender Frauen, die dem amerikanischen Roman zarte, seelische Gehalte geschenkt haben, wie Willa Cather, Ellen Glasgow und andere. Emily Dickinson aber, Amerikas größte Lyrikerin, diese kranke, tief in sich gekehrte Einsiedlerin, deren Werke erst nach ihrem Tode an die Öffentlichkeit kamen, hat mit der herrlichen Einfachheit ihrer genuinen Reime, ihren bezaubernden Rhythmen, ihren epigrammatisch verdichteten Gleichnissen und Bildern, die unmittelbarsten Tiefen entströmten, eine stets wachsende Wirkung ausgeübt. Ihre Gedichte mahnen uns oft an die besten Verse der Droste.
Thornton Wilder, der dem sozialen Ethos, dem egalitären Demokratismus, sodann einer tief protestantischen Grundhaltung des amerikanischen Wesens, dem großen klassischen Schrifttum Nordamerikas so tief verbunden ist, hat sich immer als Bewunderer von Emily Dickinson bekannt. Was ihn in ihren Gedichten wohl vor allem beeindruckt: die ungeheuer richtige, in den innersten Kreis treffende Beobachtung, die durchsichtige Wirklichkeit, die im Sichtbaren das Unsichtbare erspüren läßt, er hat diese Werte selbst zu hoher Vollendung gebracht; seine Themen: Natur, Liebe, Tod und Schicksal, sind auch die Themen von Emily Dickinson.
Dieser vieldeutige Begriff der Liebe, die niemals Eros allein und auch nie einzig Agape ist: Liebe lebt in Didos und in Phaedras Raserei, aber sie ist auch die Kraft, die lautlos und stetig in jedem wahren Heldentum, in jedem wirklichen Opfer und erhaben in der Gnade wirkt. Diese Liebe trägt die Welt über dem Abgrund, und nichts von dieser Welt ist von ihr ausgeschlossen. Hinter ihrer irdischen Gegenwart aber tut sich etwas anderes kund, auch die Liebe ist nicht der Sinn des Ganzen, sie ist - und nun spricht Wilder - »sie ist nur eines der Zeichen dafür, daß das Leben einen Sinn hat«. Dies ist das Wort der Königin Alkestis in Wilders noch ungedrucktem Bühnenwerk, der Alkestiade.
Dieses Suchen nach dem Sinn wirkt durch des Dichters ganzes Leben, durch sein ganzes Werk. Durch das Mittel einer unerfüllten, unerfüllbaren, weil weit über die Erfüllung hinausstrebenden Liebe versucht er, diesem Sinne nahezukommen. Dies ist sein Weg durch eine Welt hindurch, die nicht endet, auch nicht, wie sein großer Landsmann und Zeitgenosse droht: »im Blitz der Auflösung und im Gewinsel«, die ewig ist, was auch geschehen möge. Wie sagt die adventistische Hetäre, die Frau von Andres: »Ich habe das Ärgste erfahren, das uns widerfahren kann, und trotzdem preise ich alles, was lebt; alles, was ist, ist gut.« Immer steht Wilder innerhalb der Einheit alles Geschehens, und dabei weiß er tiefer als andere, was Vergänglichkeit ist und auch was Dauer in unablässigen Auferstehungen bedeutet. Das Bewußtsein des Schwindel erregenden, verschwenderischen Ablaufs unzählbarer menschlicher Geschicke in Jahrtausenden der Jahrtausende in einem Weltall, das nichts weiß von diesen Geschicken, außerhalb dessen sie sich aber nicht abspielen können, führt ihn zu seiner gelassenen Bescheidenheit, die irrtümlicherweise bisweilen für Distanz oder Kühle gehalten wurde und die doch nur ein Teil des ergriffenen Staunens ist, des Respektes, aus dem sich die dem Dichter so eigene, wunderbare poetische Atmosphäre ergibt. Ja, dies spezifisch Poetische entsteht bei ihm dadurch, daß das Ergehen des einzelnen auch dort, wo Pfeil und Schleudern treffen, eingeordnet bleibt in das Ergehen der im Strom der Zeit vorüberziehenden Menschheit, und diese Menschheit kennt er wie wenige, ob er uns in das spanische Amerika des alten Regimes führt oder nach Rom am Ende der Republik, immer ist seinem künstlerischen Können die letzte atmosphärische Eigenheit vergangener Zeit, fremden Menschentums erreichbar. Er hat Peru nicht gekannt, als er in der Brücke von San Luis Rey uns die echteste Vision Perus schenkte; die Gestalten seiner Iden des März sprechen, wie Ludwig Curtius ausrief, auf englisch das echteste Latein der römischen großen Welt des ersten Jahrhunderts. Es handelt sich nicht um tastende Einfühlung, sondern um das Wunder der Verwandlung, um Identifikation. Das größte aller Friedensgebote, die Fähigkeit des sich Versetzens in den ganz andern, ist erfüllt. Alle Figuren sind zeitecht, einzig Caesar hat vielleicht Maßstäbe späterer Epochen gewonnen, ist in gewissem Sinne durch die Psychoanalyse hindurchgegangen, hat sich von dem elementaren Caesar Mommsenscher Prägung entfernt.
Wie dem sei, nicht nur das Erhabene, auch das Alltägliche, das scheinbar Triviale wird bei Wilder stets zu voller Würde erhoben, auch es gehört dem rätselhaften Phänomen dieser Menschheit an, ihrer Berufung, ihrer Bewährung, ihrer immer wieder erfolgenden Rettung um Haaresbreite oder, wie es im Englischen so einschneidend heißt, »um die Haut ihrer Zähne«. Der gestikulierende einzelne, der sich für einen Mittelpunkt hält, wird schwerlich sein Werk betreten, tut er es für einmal dennoch, so wird er aufgelöst in unendlichem Humor, aber auch zwischen den zwei unverrückbaren Polen, dem lächerlichen und dem sublimen, wird er immer näher beim sublimen bleiben. Auch George Marvin Brush in dem Roman Heaven's my destination entgeht dieser Regel nicht. Wilders Dichtung ist eine Antwort auf alle Anklagen, sie ist endlich wieder einmal keine Dichtung des Ärgernisses und des Aufruhrs, sie ist ein Werk nachdenklichen Trostes, und zuletzt gelangt sie zu einer apollinischen Helle, durch welche alle Übergänge, auch derjenige vom Leben zum Tode, der Grundbedingung aller andern Notwendigkeiten, in so erstaunlich musikalischer Weise sich vollziehen, in der Weise, welche die Süditaliener, die Großgriechen mit dem Worte »levità« bezeichnen, was nicht einfach Leichtigkeit heißt, sondern viel mehr, etwas nämlich, was an die Vorstellung der Levitation anklingt, anklingt an ein schließliches Überwinden der Naturgesetze, zu welchen die Todesangst der Kreatur gehört. Wie frei und still und gefaßt gehen Lebende und Tote im Werke Wilders um. Die ergreifende Gestalt der Emily in Our Town, dem Stück Die kleine Stadt, erkennt mit einem neugewordenen Blick, daß dasjenige, was sie hinter sich ließ, ihr gelebtes Leben, zwar zu einem Teil ihrer selbst wurde, wie alles Überwundene, daß sie aber auch auf dem Wege der Liebe nicht wirklich zu den Zurückgelassenen heimkehren kann, weil sie nun ein Geheimnis kennt, das sie von den Lebenden trennt und das in der Sprache der Lebenden nicht mitzuteilen ist. Auch sie steht da für eine Hoffnung des Dichters, die Hoffnung auf einen neuen Menschen, auf eine Mutation, deren Möglichkeit Apollo in der Alkestiade im Gespräche mit dem Tode verheißt. Die schweigsame Alkestis, die den eigenen Tod auf sich nimmt, um den geliebten Gatten zu retten, wirkt den ewigen Gesetzen entgegen, von Herakles wird sie als erste Sterbliche der Unterwelt entrissen, dann allerdings muß sie erleiden und über menschliches Vermögen hinaus ertragen, was durch ihr Hinscheiden gnädig vor ihr verhüllt war. Immer nach vorwärts drängt die wirkende Kraft bei diesem Dichter, sie drängt zur Annahme des Verhängten ohne Klage, ohne sinnloses Widerstreben. Was ist, ist gut. Die meistgeprüften unter seinen Figuren aber, wie die Frau von Andros oder die euripideische Königstochter, läßt er das Höchste, die Weisheit, gewinnen, weil sie das Leben überwunden haben und imstande sind, das Treiben der Menschen versöhnt, gelöst und von der andern Seite aus zu betrachten.
Nichts ist schwerer, vor allem für die Theaterkunst, als die Darstellung geläuterter Weisheit, gar des Guten oder - ein Wort, das wir heute kaum mehr zu benützen wagen - des Edlen. Bei Wilder sind alle Menschen gut, auch die schlechtesten, auch der böseste, Henry, in dem großen Volksstück Wir sind noch einmal davongekommen, das in den Jahren gleich nach dem letzten Krieg in Deutschland gewirkt hat wie der Regenbogen eines neuen Bundes. Ja, selbst dieser Brudermörder, des Mr. Antrobus Sohn Henry, der ewige Kain mit dem Kainsmal an der Stirne, ist nur der Vertreter des Bösen, auch ihm ist ein noch dem Mitgefühl zugängliches Geschick zugeteilt worden, und auch vor seiner Gestalt klingt die Frage mit:
Ach wer heilet die Schmerzen
Des, dem Balsam zu Gift ward?
Der sich Menschenhaß
Aus der Fülle der Liebe trank
Erst verachtet, nun ein Verächter.
Die Einheit von Wilders Welt tritt auch dadurch in Erscheinung, daß jede seiner Gestalten in jedem seiner Werke umgehen könnte. Die ewig weibliche Sabine aus The Skin of our Teeth würde sich aufs leichteste mit allen andern, mit den mütterlichen, den tapfern, mit den Maria Magdalenen, mit der Frau von Andres oder mit der aus einer Massenetoper entsprungenen und seither so groß gewordenen Perichole oder mit der vom Dichter begnadigten, weil begriffenen, Clodia aus den Iden verständigen wie mit allen Gestalten aus den Einaktern. Herr Antrobus aber ist vorerst ein mittlerer Amerikaner, er hätte, wer weiß, es kann sein, mit den antiken Heroen im Werk seines Schöpfers gewisse Schwierigkeiten, weil er ihnen als Techniker und Banause erscheinen würde, und vielleicht würde auch der Sprechende unter den drei geheimnisvollen Hirten, in denen Apoll sich versteckt, den Hirten der Alkestiade, die Frage stellen, ob es nicht besser gewesen wäre, das Rad nicht erfunden zu haben. Aber natürlich ist Mr. Antrobus auch ein Pädagoge, er würde seinen Standpunkt vertreten, er hat seit der Hirtenzeit so unendlich viel erfahren, er ist ein in unwirtlichen Gegenden gegen die Natur kämpfender Barbar gewesen, einmal sodann, und das kann er nicht von sich abtun, war er auch ein Puritaner, und seither ist er überzeugt, den rechten Weg zu kennen. Er fühlt sich verpflichtet, diesen Weg den andern zu weisen, auch wenn er jetzt vorübergehend nur noch ein säkularisierter Puritaner ist. So unendlich oft hat er Das lange Weihnachtsmahl, diesen tiefsinnigen Einakter seines Schöpfers erlebt, er weiß, daß der Mensch zwar nicht von Brot allein, aber eben doch von Brot lebt und daß das von ihm erfundene Rad und dessen unendliche Ableitungen und Verlängerungen so lange heilbringend sein können, als sie nicht zum Zweck werden, sondern Mittel bleiben, in der Abwehr gegen stets neue auftretende Gefahren, um es den einigermaßen Geschützten, den immer nur mit knapper Not Geretteten immer wieder zu erlauben, das Eine zu suchen, das not tut, das Einverständnis mit dem verborgenen Sinn des Daseins.
Dieses Suchen ist ein Perpetuum mobile in des Dichters Gemüt, nicht durch das Mittel des folgerichtigen Nachdenkens vollzieht es sich, nein unmittelbar. Caesar, in den Iden des März, schildert diesen Vorgang. Er sagt: »Du weißt, wie wenig ich zum Nachdenken neige; zu welchen Einsichten ich immer gelange, ich gelange zu ihnen, ich weiß nicht wie, aber augenblicklich.« So ist es, in dieser Weise stellt die dichterische Einsicht sich her, etwas leuchtet plötzlich auf, es erhellt für einen Augenblick in der Runde weite Strecken und erlischt dann, das Gedächtnis schildert später und deutet das allzu flüchtig Geschaute. Wenn in dem wie ein vollendetes Quintett durchkomponierten Roman The Bridge of San Luis Rey der Pater Juniperus die Frage Hiobs stellt, so wird ihm eine das ganze Buch zusammenhaltende Antwort zuteil, die aus plötzlich wieder erlöschender Helle und dunklem Ahnen so gemischt ist, daß die Wahrheit uns auf Sekunden wahrer als wahr, wesentlicher, erfüllter erscheint, um dann gleich wieder von aufsteigenden Schatten der Dämmerung eingehüllt zu werden; es ist eine Wahrheit, die wir nicht festhalten können, die sich immer wieder entzieht und einer andern Sphäre angehört als der unsern. Der Pater Juniperus wird von der Kirche verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt, nicht weil er mit Gott rechtet, sondern weil er wissen will, wissen, warum fünf Menschen, die untereinander in keinerlei Zusammenhang stehen, im gleichen Augenblick von der dem heiligen Ludwig geweihten indianischen, aus Weidenzweigen geflochtenen Brücke, die wie eine Cellosaite springt, in den Abgrund, in den Tod geschleudert werden. Aber der Pater, der der Vorgeschichte dieses Ereignisses bis ins letzte nachgeht, und wir mit ihm, erkennen für den Bruchteil eines Augenblickes, daß das Leben dieser fünf am Ende angelangt war, weil ihre Liebe - nun ja - mir scheint, als wäre da ein Geheimnis verborgen, uns eben noch verborgen, nur hinter der nächsten Ecke - ja - weil ihre sie ganz erfüllende Liebe zu diesem und jenem Lebenden sich totgelaufen hatte, und die große Gestalt des vom Autor seiner eigenen Mutter gewidmeten Buches, die Madre Maria, die Äbtissin, sagt: »Ihre Liebe wird genug gewesen sein«, und - »alle diese Regungen von Liebe kehren zurück zu der einen, die sie entstehen ließ.« Wilders Werk ist der Versuch, eine Antwort auf die ungeheure Anklage unserer Zeit zu geben, und wie jede im letzten Sinn ernste Antwort ist auch die seine, und sie bleibt es - ist auch seine Antwort eine Frage.
Dort, wo diese Frage gestellt wird, liegt der Orgelpunkt, die große Stille der uns verlorengegangenen inneren Sammlung, dort, wo diese Frage gestellt wird, erleben wir für einmal den kurz verweilenden Augenblick des Friedens. Die Fülle solcher im ungeheuren Getöse der Begebenheiten immer wiederkehrenden Augenblicke dieses Waffenstillstands unter den Menschen, Völkern und einzelnen schenkt uns der Dichter, dem wir danken und der an dieser hohen Stelle geistigen Freiheitsstrebens als ein dazu in seltenem Maße Berufener am heutigen Tage den Friedenspreis erhält.
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