Karl Jaspers
Wahrheit, Freiheit und Friede
Dankesrede
Die mir verliehene Auszeichnung bedeutet eine hohe Ehre. Denn der deutsche Buchhandel ist eine unabhängige Instanz und durch seine Leistungen seit Jahrhunderten legitimiert.
Unsere Zeit zwingt zur Verwandlung des Verlegers in einen Warenproduzenten, des Sortimenters in einen Verkäufer. In der Tat aber werden beide unsere Bundesgenossen. Gemeinsam schaffen Schriftsteller und Buchhandel den öffentlichen Raum des Geistes, in dem durch das Chaos die Wahrheit sich hervortreibt, und bewirken die wachsende Teilnahme einer lesenden Bevölkerung. Unsere Verleger und Buchhändler sind nicht schon befriedigt durch die abschätzbaren Bedürfnisse eines Publikums und durch die notwendigen Kalkulationen. Sie sind hellhörig, der eine hier, der andere dort, für die Kraft in Gedanke und Dichtung, für die Bereitschaften im Verborgenen, für die Möglichkeiten des Alten und des Neuen, für das, was erhellen, ermutigen, beschwingen kann. Sie bringen Schriften heraus, weil sie wollen, daß deren Denkungsart in der Welt sei.
Von dieser Instanz wird mir die Auszeichnung verliehen, die »Friedenspreis« heißt. Es scheint angemessen, bei seinem Empfang vom Frieden zu sprechen.
Wir alle wollen den Frieden, den äußeren Frieden, daß kein Krieg sei und daß die Massenvernichtungswaffen nie mehr zur Anwendung kommen und daß das Ende durch die Atombombe ausbleibe.
Dieser Friede ist nur möglich als Weltfriede. Heute aber treten die großen farbigen Völker auf, die an Menschenzahl und Bodenschätzen durch ihre schnell fortschreitende Technisierung in wenigen Jahrzehnten dem Abendland überlegen sein werden. Heute ist ferner eine neue, erst im technischen Zeitalter möglich gewordene Staatsform, die totale Herrschaft, entstanden. In dieser Weltlage ist der äußere Friede nur möglich in Gemeinschaft mit jenen gewaltigen Völkern und nur im Umgang mit der totalen Herrschaft. Friedenspolitik ist Weltpolitik. Diese Weltpolitik kann nur Erfolg haben unter Voraussetzungen, die jeder in sich selbst, die wir im eigenen Staate verwirklichen. In dem Maße, in dem wir dies tun, dürfen wir hoffen, daß die anderen uns entgegenkommen. Nie wird uns der äußere Friede als Geschenk durch bloße politische Operationen zuteil werden.
Nicht von der Friedenspolitik als Weltpolitik möchte ich sprechen, sondern von diesen Voraussetzungen. Erstens: Kein äußerer Friede ist ohne den inneren Frieden der Menschen zu halten. Zweitens: Friede ist allein durch Freiheit. Drittens: Freiheit ist allein durch Wahrheit.
1.Kein äußerer Friede ohne den inneren
Friede ist nicht Kampflosigkeit. Aber der Mensch kann den Kampf verwandeln aus gewaltsamem Kampf in den geistigen und in den liebenden Kampf. Der gewaltsame Kampf erlischt in der Kommunikation. Statt Überlegenheit im Sieg ist das Ergebnis die gemeinschaftliche Wahrheit. Durch solchen Kampf miteinander kommt erst jeder zu sich selbst. Der liebende Kampf stellt alle Mittel der Gewalt, auch die Mittel der intellektuellen Gewaltsamkeit, die als stärkere Rationalität der stärkeren Muskelkraft entspricht, dem Partner in gleicher Weise wie sich selbst zur Verfügung und hebt damit ihre tödliche Wirkung auf. Was einst im Kampf auf Leben und Tod Ritterlichkeit und ihre Spielregeln waren, dem sind in der täglichen Praxis der liebende Kampf und seine Ordnung zu vergleichen.
Der Friede beginnt im eigenen Haus. Der Weltfriede beginnt mit dem inneren Frieden der Staaten. Im innenpolitischen geistigen Kampf um die Herrschaft muß die Gesinnung der Friedlosigkeit, die die Gewalt wollen würde, wenn sie nur könnte, verschwinden. Denn die Friedlosigkeit der Innenpolitik macht auch den Frieden in der Außenpolitik unmöglich.
2. Friede allein durch Freiheit
Der innere Friede der einzelnen Menschen und des einzelnen Staates ist durch Freiheit. Weil nur Freiheit zum Frieden fähig ist, sagte Kant: Nur Staaten mit »republikanischer Regierungsart« können den Frieden schließen, der kein bloßer Waffenstillstand, sondern ohne Vorbehalt als Dauer gemeint ist. Unter republikanischer Regierungsart verstand Kant nicht eine Staatsform (wie Monarchie, Aristokratie, Demokratie), sondern die Regierungsart der Freiheit, die wir heute Idee der Demokratie nennen. Sie ist nicht zu verwechseln mit einer technischen Verfassungsform, die vermeintlich einmal als die richtige gefunden und identisch übertragbar wäre.
Was aber ist Freiheit? Äußere Freiheit eines Staates und innere Freiheit durch seine Regierungsart haben Bestand durch die existentielle Freiheit der einzelnen Menschen. Daher die Vieldeutigkeiten im Worte »Freiheit«: Äußere politische Freiheit kann auch ein despotischer Staat haben. Eine freie demokratische Verfassung kann auch ein Volk innerlich unfreier Menschen haben.
Freiheit beginnt als Freiheit des einzelnen, gewinnt gemeinschaftliche Gestalt in der republikanischen Regierungsart, behauptet sich gegen Unterdrückung durch fremde Staaten. Im Ganzen dieser drei Momente ist Freiheit wirklich.
Erst die Freiheit, dann der Friede in der Welt! Die umgekehrte Forderung: »erst Friede, dann die Freiheit« täuscht. Denn ein durch Zufall oder durch Despotie oder geschickte Operation oder durch Angst aller Beteiligten für den Augenblick bestehender äußerer Friede ist nicht ein im Grunde des Menschen selbst gesicherter Friede. Er würde aus dem faktischen Unfrieden der Unfreiheit der einzelnen bald wieder zum Kriege führen.
Auch die Demokratie als Verfassungsform ist noch keineswegs Freiheit. Sie kann der Willkür, der Zügellosigkeit Raum geben. Eine Demokratie, plötzlich eingerichtet, nicht von einem Volke hervorgebracht, daher auch noch nicht verstanden, ist nur eine Chance, daß das Volk eines solchen Staates die Idee der Demokratie erwerbe und dadurch in seinen Bürgern frei werde. Leicht wird die nur formale Freiheit verspielt. Wenn die Kämpfe der Parteien aus solidarischer Verbundenheit in den selbstzerstörerischen Prozeß treiben, dann wird der freie Staat zur Kulisse, die morgen mitsamt allen seinen Politikern und Parteien umgeworfen werden mag. Die nur formale Demokratie selber erzeugt die totale Herrschaft, so daß Hitler mit Recht triumphieren konnte: »Ich habe sie mit ihrem eigenen Wahnsinn geschlagen.«
Die Weltlage ist drohend: Heute ist der Weltfriede die einzige Rettung. Aber immer gab es Kriege. Wie soll das Ungeheure möglich werden, daß keine Kriege mehr geführt werden? - Für unser Wissen nicht durch die Magie eines übergeordneten Geschehens, auf das sich zu verlassen bequem und verantwortungslos wäre, auch nicht allein durch eine rational erdenkbare Apparatur, die das Erwünschte herstellen möchte, sondern durch unsere täglich bewährte Freiheit. Der Unbedingtheit dieser Freiheit kommt dann vielleicht die transzendente Macht zu Hilfe, die wir in unsere Voraussicht nicht einstellen können, deren unbestimmbare Möglichkeit uns jedoch ermutigen darf, wenn der bloße Verstand ratlos wird.
3. Freiheit allein durch Wahrheit
Freiheit aber ist nicht aus dem Nichts. Sie ist nicht Willkür, nicht beliebiges Meinen. Erst in der Hingabe an Wahrheit ist erfüllte Freiheit möglich. Kein Friede ohne Freiheit, aber keine Freiheit ohne Wahrheit. Hier liegt der entscheidende Punkt. Freiheit ist leer, wenn nicht die Wahrheit gemeint ist, der sie entspringt und der sie dient.
Was ist Wahrheit? Seit dem Altertum handeln Philosophen immer wieder »von der Wahrheit«. In neueren Zeiten denken sie sich ein in ihre Fragwürdigkeiten, in ihre Dialektiken und Umstürze, bis zu der Paradoxie, ob die Unwahrheit selber zu einem Moment der Wahrheit werden könnte. Mit der Wirklichkeit unserer Wahrheit sind wir immer nur auf dem Wege. Niemand hat sie, wir alle suchen sie.
Wollen wir Freiheit und Frieden, so müssen wir in einem Raum der Wahrheit uns begegnen, der vor allen Parteiungen und Standpunkten liegt, vor unseren Entscheidungen und Entschlüssen. Wenn wir frei und wahrhaftig werden, kehren wir ständig zurück in diesen gemeinsamen Raum, in dem wir verbunden bleiben auch dann, wenn wir Gegner sind.
Wahrheit liegt nicht zuerst im Inhalt, sondern in der Weise, wie dieser gedacht, aufgezeigt und diskutiert wird: in der Denkungsart der Vernunft. Diese Wahrheit hört auf in der Vereinzelung trotzigen Soseins und Sowollens, mit der Blindheit der Seele und Taubheit des Geistes, mit dem Abbruch der Kommunikation. Das sehen wir alltäglich. Ein Beispiel waren Erscheinungen beim jüngsten Kampfe gegen die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen.
Wie man entscheiden solle, darüber sind damals wie heute verschiedene Meinungen sinnvoll möglich. Unvernünftig aber und unwahr ist es, ohne Durchdenken aller Gesichtspunkte in der weltweiten politischen Situation aus ungeklärten Motiven nun, statt unter Bedingungen vielmehr absolutistisch die Ausrüstung mit Atomwaffen abzulehnen oder zu fordern. Was geschieht? Nicht mehr freie Diskussion auf gemeinsamem Boden, vielmehr Verkündigung des einzig möglichen Weges zum Heil unter ausschließlicher Heranziehung der zum Nein oder Ja passenden Gründe.
Es entsteht eine vergiftete Atmosphäre: aus nicht durchhellter Angst, - aus dem Drang, daß endlich etwas geschehen soll, - im Bewußtsein eines »wir«, dem nur eine Meinung wahr und jede andere empörend ist, - aus verneinenden Antrieben: es muß anders werden -, aus Ressentiments. Man steht wie vor einer Wand, gegen die man redet, ohne gehört zu werden.
Hier war die Denkungsart wesentlicher als der besondere Inhalt. Es ist gewiß ein ungeheurer moralischer Unterschied, ob der Inhalt ist: »Deutschland erwache, Juda verrecke«, »Volk ans Gewehr« (mit der Vorstellung von einem erst Europa und dann die Welt beherrschenden deutschen Reich), oder ob er ist: »Gegen den Atomtod«, »Friede um jeden Preis« (mit der Vorstellung von Rettung im Weltverhängnis durch eigene Gewaltlosigkeit). Wenn wir aber an Wahrheit und Freiheit als Voraussetzungen des Friedens denken, erschreckt uns noch mehr als jeder Inhalt diese Denkungsart, die stärker ist als der Inhalt, sei dieser eine menschenfeindliche Lüge oder eine noch gutgemeinte Verschleierung der Wahrheit. Der Inhalt ist austauschbar. Die Unwahrheit der Denkungsart bleibt dieselbe.
In der gesamten politisch freien Welt ist Unwahrheit unsere größte Gefahr. Wir dürfen nicht behaupten, daß die sogenannte freie Welt heute wirklich frei sei. Sie hat vor der totalen Herrschaft nur den Vorzug dieser Chance, frei zu werden. Sie wird nur bestehen bleiben, wenn sie diese Chance mit ganzem Ernst ergreift. Die Idee der Demokratie - der republikanischen Regierungsart - droht verlorenzugehen in einer formal werdenden Demokratie, die zu einem Mittel von Manipulationen von Politikern und Wirtschaftsinteressenten entartet.
Wir dürfen auch nicht behaupten, daß der Wirtschaftszustand der freien Welt in Ordnung sei. Die moderne Wirtschaft, die ihrer Herkunft nach expansiv ist, muß sich in ihrer Struktur und ihrem Ethos von Grund aus wandeln, wenn die Expansion an der Enge der endgültig verteilten Erde ein Ende gefunden hat.
Das scheint vielen ein unlösbares Problem. Etwa: Vorübergehende Aushilfsmittel, zum Beispiel durch finanztechnische Operationen, durch teilweise Planungen, durch staatliche Ankurbelungen, durch den Umfang der Abzahlungsgeschäfte usw., werden das Unheil dieser Wirtschaft nur hinauszögern. Der Marxismus erwartet Arbeitslosigkeit und Hunger, bei denen nichts übrigbleibt als die totale, terroristische Planwirtschaft. Gegen diese Erwartung hilft nicht die Unwahrheit des gedankenlosen Optimismus, es werde mit der Expansion in grenzenlosem Fortschritt schon weitergehen.
Im Gang der Dinge selbst entsteht indessen durch Verschleierung eine Grundunwahrheit. Die Expansion wird ersetzt durch Arbeitsbeschaffung mittels Zerstörung, das heißt durch Steigerung der Konsumtion bis zur Vernichtung jedes Bleibenden. Der Prozeß von Produzieren und Konsumieren, selbständig geworden, baut nicht mehr eine Welt, in der der Mensch zu Hause ist, läßt keine Dauer haltbarer Güter zu. Nach völliger Zerstörung, 1945, konnte dieser Prozeß durch Arbeitswillen und Tüchtigkeit eines Volkes schnell und wirkungskräftig wiederhergestellt werden, als ob nichts geschehen wäre.
Voraussetzung dieses Treibens wird ein Menschentypus, dessen Dasein sich verzehren läßt in diesem quantitativ zu steigernden Produzieren und Konsumieren, in einem Leben zwischen der träger werdenden Arbeitslust und der leerer werdenden Freizeit, mit einem Selbstbewußtsein, das auf dem Prestige beruht, durch Anschaffungen und ständige Neuanschaffungen auf möglichst hoher Ebene dieses ständig zerstörenden Produktionsprozesses mitzuleben. Daher der Anspruch auf Radio, Fernsehapparat, Auto, Reisen, elegante Kleidung, gesellschaftlichen Betrieb, luxuriöse Wohnung usw. Und alles muß sich, aus einem ruhelosen Drang zum Neuesten, dem Produktionsbedürfnis der Industrie entgegenkommend, schnell ändern.
Da nichts Bleibendes ist, gehört die ständige Inflation zu dem bodenlosen, weder Wirklichkeit noch Wahrheit findenden Prozeß selber, der auch nichts Wertbeständiges braucht, vielmehr es nicht erträgt.
Die Analysen der entartenden Demokratie und des Wirtschaftsprozesses in der freien Welt werden von einsichtigen Schriftstellern heute vollzogen, um an unsere Wahrhaftigkeit zu appellieren und die Gegenkräfte in unserer Freiheit wachzurufen.
Wir Deutsche insbesondere haben unsere Wahrhaftigkeit als Voraussetzung des Friedens zu gewinnen. In der Bundesrepublik haben die Arbeitskraft und Tüchtigkeit der deutschen Unternehmer, Angestellten und Arbeiter die verantwortungsbewußte Sachlichkeit der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Erhard, Schäffer, Vocke nach der totalen Katastrophe das Erstaunlichste ermöglicht. Unbeirrbar ist die Außenpolitik des Bundeskanzlers, der die relative Souveränität der Bundesrepublik erreichte, bedingungslos dem Abendland verbunden. Das deutsche Wirtschaftswunder und die Errichtung des neuen Staats sollen nicht durch Nörgeleien verkleinert werden.
Aber: Leistung allein genügt nicht. Die Hauptsache ist damit noch gar nicht geschafft. Der Stolz auf die Leistung trügt. Er darf nicht ablenken vom Wesentlichen.
Aus der Anstrengung des Arbeitsbetriebes und aus der Vergessenheit zur Besinnung kommend, fragen daher Deutsche: Woher unser Ungenügen im Gefühl von Unwahrheit im Grunde? Was fehlt? Was wurde versäumt?
Ich weise auf Versäumnis an Wahrheit hin, an Beispielen, in der Kürze durch bloße Behauptungen, die ich als Fragen zu verstehen bitte:
1. Die politische Erziehung ist noch kaum in Gang gekommen und scheint in der Propaganda zu den Wahlterminen vollends verloren. Die Idee der Demokratie verlangt die Fühlung der Staatsmänner mit dem Volke. Ohne das ist Demokratie nur als parteiliche Vorbereitung und als Manipulation der Abstimmungen da. Einem freien Volke aber liegen gemeinsam mit den Regierenden die Leitbilder und die Vorstellungen und Ideen offen. Diese sind gedanklich ausgeprägt und haben Bestand durch die eingeübte Denkungsart und die ständig bewegte Teilnahme der Bevölkerung an den Entschlüssen.
2. Wahrhaftigkeit verlangt das gemeinsame Grundwissen von der Herkunft unserer Lage aus dem Wilhelminischen Deutschland, über dessen Sturz zur Demokratie des Kollapses und zum Nationalsozialismus. Nur durch bewußte Umkehr der politischen Denkungsart können wir unsere Freiheit gewinnen. Bloße Naturwesen vergessen und fangen von vorn an. Wir aber sind Menschen und werden nimmermehr wahrhaftig, wenn wir nicht vor Augen haben, was getan wurde.
Heute gibt es junge Deutsche, die sich beklagen: In der Schule höre die Geschichte mit dem Ersten Weltkrieg auf. Sie zweifeln an der Redlichkeit der Erwachsenen. Schon der Jugend aber müsse gezeigt werden, was geschehen ist und daß wir Menschen die Folgen der Handlungen unserer Eltern und Voreltern im Guten wie im Schlimmen übernehmen müssen. Eltern dürften ihre Kinder nicht bewahren wollen vor schrecklichen Kenntnissen. Vergessen verhindert mit der Wahrheit die politische Erziehung.
3. Wir sind dieselben Deutschen im Westen wie im Osten. Unsere politische Freiheit ist nicht unser Verdienst, die Unfreiheit im Osten ist nicht Schuld der Deutschen dort. Uns hier ist die Freiheit vom Sieger geschenkt, den Deutschen dort die totale Herrschaft aufoktroyiert. Beide Regime haben ihren Grund im Willen der Besatzungsmächte.
Im Westen ist uns durch den Willen der Sieger die Chance gewährt, eine Demokratie zu werden. Unsere Demokratie ist nicht geboren aus der hochgemuten Gesinnung eines Befreiungskampfes, sondern uns verordnet, als wir ein Haufen überlebender Deutscher waren.
Wissen wir schon, was Freiheit ist? Einige Europäer haben in opfervollen Kämpfen die politische Freiheit hervorgebracht. Daher nannte Kant die Ereignisse in Holland und der Schweiz, in England und Amerika die wichtigsten Ereignisse der neueren Geschichte. Deren politische Folgen genießen wir heute. Aber nur wenn wir wissen, daß wir die Demokratie bisher allein als Verfassungsform äußerlich, noch keineswegs als Wirklichkeit der demokratischen Idee innerlich in unseren Herzen und Köpfen haben, ist die Möglichkeit da, daß wir Demokraten werden.
4. Wo die neue politische Konzeption noch ausbleibt, da herrschen zum Ersatz der Vergangenheit entnommene Fiktionen.
Wir hatten ein preußisches Kleindeutschland, den Bismarckstaat, der sich unwahrhaftig als das zweite Reich auf das erste mittelalterliche Reich bezog. Dieser Staat, fälschlich mit dem Titel »Reich« versehen, brachte uns weder politische Freiheit noch politische Erziehung, aber eine staunenerregende wirtschaftliche Blüte durch führende Teilnahme an der technischen Entwicklung des Zeitalters, eine apolitische herrliche Liberalität des Lebens, eine großartige wissenschaftliche Entfaltung, eine epigonenhafte Bildung. Es liegt ein Glanz über diesem Staat, dessen Täuschung Nietzsche und andere einzelne früh erkannten, zuletzt Theodor Mommsen in seinem ergreifenden Testament mit Bitterkeit aussprach.
Heute unter neuen Weltmächten in völlig verwandelter Weltlage ist der Bismarckstaat ganz und gar Vergangenheit. Wenn wir leben, als ob er noch einmal wieder wirklich werden könnte, lassen wir Gespenster das Blut der Gegenwart trinken und uns verhindern, die realen Gefahren und die großen Möglichkeiten der Zukunft zu begreifen.
Daß das Rassenbewußtsein der Farbigen gegen die Weißen in wenigen Jahrzehnten oder schon früher das Abendland vor die Frage stellt, sich als Ganzes solidarisch zu behaupten oder verschlungen zu werden, macht unseren politischen Nationalismus verderblich. Gewicht hat allein die dringend ersehnte Konföderation der abendländischen Staaten, ob groß oder klein. Alle sind als einzelne klein.
5. Unsere zwei großen Parteien in der Bundesrepublik haben beide einen politisch unwahrhaftigen Grund. Die eine gründet sich auf den von ihr faktisch preisgegebenen Marxismus und gerät dadurch in die Konfusion ihres Denkens. Die andere Partei nennt sich christlich, während sich doch eine politische Partei auf den biblischen Glauben nicht redlich gründen läßt; das bringt in diese Partei etwas existentiell Verwirrtes.
Mit der politischen Selbsterziehung würden die großen Parteien aufhören, Weltanschauungsparteien zu sein. Sie würden auf dem gemeinsamen Boden des Staats republikanischer Regierungsart stehen und das politische Gewissen für die gemeinsamen Bedingungen der Freiheit haben. Der Kampf würde durch politische Argumente stattfinden und durch die Glaubwürdigkeit der politischen Persönlichkeiten. So würde das Volk nicht mehr düpiert. Aufhören würde das Ungenügen an den Parteien, die durch eine winzige Schicht von Parteipolitikern die Regierung des Landes fast wie ein Fremdkörper an sich genommen haben. Bei den Wahlen verschwände das Gefühl des Zwangs, zwischen zwei Übeln unwillig wählen zu müssen. Die Oppositionspartei würde ein mitwirkender Faktor eigener Verantwortung. Von beiden Seiten würden die politischen Probleme aus der Sache entwickelt, nicht wahltaktisch konstruiert.
Welch große Aussicht, wenn auf der einen Seite eine Sozialdemokratie, befreit vom Dogma einer marxistischen Weltanschauung, in klarer Vorstellung der Weltlage, die Außenpolitik Adenauers zu der ihren machte, die Wirtschaftspolitik, die das Wirtschaftswunder ermöglichte, in den Grundzügen akzeptierte, und nun mit dem ganzen Ernst sozialer Gerechtigkeit für die Solidarität des Operierens aller Glieder der Arbeit, nicht für einen Kampf von nicht mehr existierenden Klassen sich einsetzte!
Und wenn auf der anderen Seite die konservative Partei, befreit von restaurativen Äußerlichkeiten, befreit von der unter konfessionellen Prinzipien unter Ausfall der freien Geistigkeit erfolgenden Ämterpatronage, die sozialistischen Prinzipien ihrerseits in den auf konkrete soziale Gerechtigkeit zielenden Grundzügen akzeptierte, aber nun mit dem ganzen Ernst die geistige Überlieferung hütete, sie selber durch die Wirklichkeit ihrer Menschen bezeugt, und wenn sie dem gesamten Volk überzeugend fühlbar machte, daß ohne diese Überlieferung auf dem Grunde der griechisch-römischen Antike und der Bibel die Substanz unseres Wesens verlorengehe!
Ich muß aufhören mit diesen Beispielen als Hinweisen auf Punkte, an denen die Wahrheit nicht einfach, sondern Aufgabe redlicher Besinnung, nicht gleichgültig, sondern folgenreich ist. Ich muß verzichten auf die Fragen größter Sorge, deren praktische Beantwortung über das innere Schicksal unseres Volkes entscheidet, die Frage der Erziehung von der Volksschule bis zur Universität, und die Frage der Wehrmacht. Immer gilt das gleiche: daß wir in allem wahrhaftig werden bis in den Grund ist Vorbedingung, daß überhaupt Friede wird, soweit dieser an uns liegt.
Im ganzen für uns Deutsche: noch haben wir nicht den Boden gemeinsamen Vorstellens und Wollens. Können wir die Wahrheit unseres Selbstbewußtseins wiederfinden aus dem Anspruch der von uns gewählten Ahnen, die wir unterscheiden von denen, die uns verführten?
Auf dem Gebiete des mittelalterlichen Reiches mit den deutschsprachigen Dialekten und der deutschen Schriftsprache gibt es heute Österreich, die Bundesrepublik, die Deutsche Demokratische Republik, gibt es Holland und die Schweiz, die nebst Österreich durch ihren Willen und durch glückliche Fügung nicht in das preußische Kleindeutschland einbezogen waren. Die deutsche Substanz hat sich politisch in vielen Gestalten gezeigt.
Das apolitische, tiefere deutsche Selbstbewußtsein kann mit dem politischen Bewußtsein eines einzelnen deutschen Staates nicht identisch werden. Unser deutsches Selbstbewußtsein kann wegen des diskontinuierlichen deutschen Ganges von Katastrophe zu Katastrophe sich nicht an einem Staat und seiner Geschichte aufrichten, wie einst das römische und in neueren Zeiten das englische Selbstbewußtsein und wie Teile des mittelalterlichen deutschen Gebietes in den großen historischen Kontinuitäten Hollands und der Schweiz. Es ist vor allem nicht zu binden an den ephemeren, weder geistig noch sittlich-politisch begründeten, vielmehr damals von Historikern mit unredlichen Anschauungen bekleideten Bismarckstaat.
Die Neugründung unseres uralten deutschen Selbstbewußtseins liegt in der Gemeinschaft vorpolitischer Substanz, in der Sprache, im Geist, in der Heimat. Aus dieser Substanz entspringt die je besondere staatliche Aufgabe, heute auch in der Bundesrepublik.
Vielleicht liegt die Zukunft in einer der nationalstaatlichen wesensfremden Gestaltung: Das Selbstbewußtsein der Völker überhaupt würde apolitisch. Das politische Selbstbewußtsein des einzelnen Bürgers dagegen bezöge sich allein auf den Staat, seine Verfassung, seine Verläßlichkeit für die Freiheit durch republikanische Regierungsart. Staatsangehörigkeit ist eine politische Qualität und politische Verantwortung, die Volkszugehörigkeit aber nicht. Völker würden dann noch mehr als heute und bewußter durch die Welt verbreitet, nur je an einer Stelle konzentriert leben. Die Staaten sind territorial gebunden, die Völker nicht. Überall wird es Engländer, Chinesen, Deutsche, Juden usw. geben. Und im Laufe von Generationen können selbst Völker durch einzelne ihrer Glieder sich ineinander verwandeln.
Das bisherige Ausbleiben eines verbindenden apolitischen Selbstbewußtseins und daneben als etwas anderes eines politischen Staatsbewußtseins ist unser deutscher Schmerz. Wo Deutsche in optimistischen Fiktionen leben oder in dumpfer Angst oder in der gedankenlosen Ruhe eines materiell sich scheinbar stets verbessernden Daseins, da ist kein Ansatz für deutsches Selbstbewußtsein und für staatliches Verantwortungsbewußtsein. Solcher Ansatz liegt noch eher in der deutschen Verzweiflung, die sich so verquer äußert, im Zorn und im grimmigen Lachen, die die Liebe verbergen, weil der Gegenstand der Liebe, den sie doch in sich tragen, verloren scheint.
In einem deutschen Selbstbewußtsein aus unserem geschichtlichen Grunde mindestens eines Jahrtausends, nicht nur des letzten, so sehr in Frage zu stellenden Jahrhunderts, würde die Wahrhaftigkeit, soweit sie an uns liegt, ihren Boden finden.
Alle vorgetragenen Aspekte von Unwahrhaftigkeit unseres Zustandes waren nur Hinweise, auf welchen Wegen unter anderen, fragend, versuchend, wir zur Wahrheit gelangen können, die Bedingung unserer Fähigkeit zum Frieden ist.
Wir Schriftsteller arbeiten an der Denkungsart. Diese kann konkrete Entscheidungen vorbereiten, die Entscheidungen selber aber sind Handlungen. Der Schriftsteller erhebt zwar den Anspruch der Wahrheit, aber, da er nicht handelt, wirkt er unverbindlich. Wenn die großen Journalisten durch ihr Denken der Meinungsbildung des Tages Ausdruck geben oder sie erzeugen, so geben die Schriftsteller, die sich der geistig-politischen Situation der Zeit zuwenden, nicht einmal konkreten Rat. Man schilt sie darum.
Aber der Schriftsteller erstrebt anderes und mehr: Er arbeitet an den Vorstellungen, Motiven, Leitbildern, an der gemeinsamen geistigen Welt. Wohl mag er wie in einen leeren Raum sprechen, in dem der Sturm sein Wort verweht schon im Augenblick, wo es gesprochen wird, ohne Widerhall. Wenn er darunter nicht leidet, ist es ihm nicht ernst. Wenn er es nicht erträgt, ist er Schriftsteller nicht durch die einzige Legitimation, die er kennt: seine Gewißheit, daß gesagt werden solle, was er sagen will.
Täglich überfallen ihn die entmutigenden Urteile:
Es gibt Skeptiker, die zu wissen meinen, daß nichts wahr ist. Sie halten sich für Realisten. Sie sind Pessimisten, die am Ende nur Unheil und Zufall sehen und alles, was darüber hinaus gedacht wird, für Utopie halten. Es gibt die These: Die Menschen sind nun einmal so, sie waren immer so, sie können nicht anders werden.
Diese entmutigenden Behauptungen sind unbeweisbar, aber auch unwiderlegbar. Es ist Sache des Entschlusses, nicht Sache der Verstandeserkenntnis, woraufhin man leben wolle.
Wer Vernunft will und erwartet, kennt nicht weniger als die Skeptiker, Realisten, Pessimisten den Strom der Lüge in der Welt. Aber er erfährt auch, daß irgendwann Vernunft ihm entgegenkommt, wenn er selbst vernünftig wird.
Niemand weiß, was die Welt im Ganzen ist, wohin sie geht. Die Reinheit dieses Nichtwissens ermöglicht erst, was wir Wahrheit nennen oder Vernunft oder Gottesdienst.
Daß wir auf dem Weg zur Wahrheit sein können, genügt, um Mut zu gewinnen durch den Zusammenhang, von dem wir ausgingen: Friede ist nur durch Freiheit, Freiheit nur durch Wahrheit möglich. Daher ist die Unwahrheit das eigentlich Böse, jeden Frieden Vernichtende: die Unwahrheit von der Verschleierung bis zur blinden Lässigkeit, von der Lüge bis zur inneren Verlogenheit, von der Gedankenlosigkeit bis zum doktrinären Wahrheitsfanatismus, von der Unwahrhaftigkeit des einzelnen bis zur Unwahrhaftigkeit des öffentlichen Zustandes.
Das letzte Wort bleibt: Die Voraussetzung des Friedens ist die Mitverantwortung eines jeden durch die Weise seines Lebens in Wahrheit und Freiheit; die Frage des Friedens ist nicht zuerst eine Frage an die Welt, sondern für jeden an sich selbst.
Wie können wir Deutsche an unserem Ort durch uns selbst für den Frieden der Welt wirken? Das Politische ernst nehmen als das Schicksal, an dem jeder, durch Tun oder Nichttun, mitwirkt! Im Politischen aber die Wahrhaftigkeit uneingeschränkt erstreben und erkämpfen! Wahrheit kann uns den inneren Frieden bringen. Sie kann uns in den bevorstehenden Prüfungen die Pflichten und Rechte unserer winzigen Machtstellung zeigen. Sie kann es verwehren, uns schuldig werden zu lassen an neuen Katastrophen. Sie allein wird uns ermöglichen, im kommenden Gang der Menschheit uns als das zu behaupten, wodurch wir uns und der Welt zur Freude da waren und da sein können.
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