Pierre Bertaux
Auf den Friedenspreisträger 1979
Laudatio auf Yehudi Menuhiin
Lieber Yehudi,
Du kennst das Gedicht von Rainer Maria Rilke:
Errichtet keinen Denkstein. Laßt die Rose
nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn.
Denn Orpheus ists. Seine Metamorphose
in dem und dem. Wir sollen uns nicht mühn
um andre Namen. Ein für alle Male
ists Orpheus, wenn es singt.
Hier und heute wird Orpheus gefeiert. »Ein für alle Male ists Orpheus, wenn es singt.« Orpheus ists, seine Metamorphose in dem und dem. Ihm, dem ewigen, zeitlosen Orpheus in Gestalt eines mitten unter uns lebenden Menschen gebührte wohl einmal der Preis des Friedens. Sagten die Alten denn nicht, Orpheus habe durch seine Kunst nicht nur Steine und Bäume bewegt, sondern auch die wilden Bestien friedlich gestimmt? Sie kehrten in sich, und es ergab sich - Rilke wieder -,
daß sie nicht aus List
und nicht aus Angst in sich so leise waren, sondern aus Hören. Brüllen, Schrei, Geröhr schien klein in ihren Herzen.
Denn Orpheus schuf ihnen Tempel im Gehör.
Im uralten, orphischen Mythos der Griechen bändigte die Musik die rohe Gewalt. Du, Yehudi, wußtest schon immer, daß die Musik eine unter allen Umständen friedenstiftende Macht ist, hattest an sie geglaubt und glaubst weiterhin an sie, übst sie in diesem Geiste unentwegt aus. Du sagtest einmal, Furtwänglers Fehler sei es gewesen, die Macht der Musik überschätzt zu haben, und - so fügtest Du hinzu - es sei wohl auch Dein eigener Fehler gewesen. Ist das nicht etwas zuviel der Bescheidenheit? Ist denn Optimismus ein Fehler? Wäre es richtiger, wäre es weiser, Pessimist zu werden? Nein, es sei von Fehler nicht die Rede, sondern höchstens von einer ehrbaren und edelmütigen Fehleinschätzung: in der Tat, die Musik allein vermag nicht alles.
Ja, von jeher warst Du ein überzeugter Partisan im Dienste der pazifierenden Macht Musik. Wärest Du es nicht, säßest Du heute nicht unter uns.
In einer Zeit unerbittlicher Kriege hast Du nie auf das Schweigen der Kanonen und das Ende der Kämpfe gewartet: sobald es eben ging, landetest Du - meistens im Militärflugzeug - an Ort und Stelle bei den streitenden, leidenden Menschen, um für sie zu spielen - sie, die im Getöse taub zu werden drohten.
Während im September 1944 noch die Schlacht um Arnhem wütete, gabst Du unweit davon, in Antwerpen, ein Konzert.
Im Sommer 1945 spieltest Du zweimal im eben befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen, dessen Insassen noch der erlösenden Heimkehr harrten.
Im November des gleichen Jahres warst Du in Moskau, wo Kriegsstimmung herrschte, einige Monate später in Bukarest, wo noch König Michael regierte und die Amerikaner Besatzungsmacht waren; danach in Ungarn. Rumänien und Ungarn seien, sagtest Du, die einzigen Länder der Erde, in denen nie ein Despot oder gar ein politisches System die Nation symbolisiere, sondern allein die Musik. Dort, auf dem Balkan, wo mutmaßlich Orpheus und sein Mythos her sind, trug Orpheus in unserem Zeitalter die Namen Enesco, Bartók, Kodály - die Namen Deiner Freunde.
Dann aber, nach Amerika zurückgekehrt, setztest Du Dich für Furtwängler ein, dem in New York die jüdische Gemeinde seine künstlerische Tätigkeit während des Dritten Reiches zum Vorwurf machte.
Du selbst aber gingst als Jude, ja gerade darum, schon 1946 und 1947 mehrmals nach Berlin. Die Fanatiker unter den Juden warfen Dir Verrat vor. Pfiffe und Buhrufe begleiteten Deinen Auftritt. Du jedoch bliebst unbeirrbar und spieltest. Opheus gewann: man bat Dich um ein zweites Konzert. Du schilderst den Vorfall in Deinen Erinnerungen wörtlich so: »Die Zuhörer waren wie Schatten des Jenseits, die Orpheus erst nicht erkannten. Dann aber ...«
In der Sprache der Tierbändiger schreibst Du: »Wenn man sein Leben lang vor dem Publikum gestanden hat, wachsen einem so etwas wie Antennen: man spürt, wie es reagiert und reagieren wird. Man empfindet Wellen der Geneigtheit oder der Feindseligkeit.« Und Du gibst eine praktische Anweisung, eben die des Dompteurs: einem wilden Tier und einem feindseligen Publikum nieden Rücken kehren, sonst wird es gefährlich; im Gegenteil, auf es einen Schritt zugehen.
Mut ist nämlich auch eine Form der Selbsterhaltung und der praktischen Weisheit. Die besitzest Du. Dies führt aber zu einer Erkenntnis, die auszusprechen hier durchaus am Platze ist. Frieden zu stiften ist keineswegs eine Sache der Feiglinge. Dazu gehört Mut, viel Mut; vielleicht mehr Mut, als gemeinhin aufgebracht werden muß, um in den Krieg zu gehen. Das aber macht die Sache nicht leichter.
1950 war der Staat Israel zwei Jahre alt. Dort hatte es Ärgernis erregt, daß Du in Berlin aufgetreten warst und nun versuchte man, Dich an Konzerten in Jerusalem zu hindern, indem man gar die Gefahr terroristischer Anschläge gegen Dich ins Treffen führte. Aber nichts dergleichen fruchtete, Deine Antwort lautete: »Gerade weil ich in Berlin gespielt habe, will ich auch in Israel spielen.« Und Du gabst unangefochten in zwölf Tagen vierundzwanzig Konzerte. Wieder einmal war es gewonnen. Das spricht für Orpheus, spricht für Dich - und spricht für Israel.
Doch wie war es gekommen, daß die Verbindung von Musik und Völkerversöhnung Dir zum Lebenselement und Lebensinhalt, daß Berufung zum Beruf geworden ist? »Das meiste«, sagt der Dichter, »vermag die Geburt, und der Lichtstrahl, der dem Neugeborenen begegnet.«
Ja, es lag Dir schon im Blut. Denn Du gehörst keiner Nation an, bist als Weltbürger geboren. Wo in der Welt bist Du zu Hause, im Westen, im Osten? Oder besser gefragt, wo bist Du eigentlich nicht zu Hause?
Du wurdest 1916 in Nordamerika, genauer gesagt in der Weltstadt New York, geboren, als Sohn russischer Eltern, die sich in Jerusalem kennengelernt hatten. Deine Mutter Marutha war wohl, wie Dein Vater Moshe, russisch-jüdischer Herkunft. Doch fühlte sie sich eher tatarischer Tradition verpflichtet. So möblierte sie mit Absicht das große Wohnzimmer Eures Hauses in Ville d'Avray wie das Zelt eines asiatischen Khans: rundum an den Wänden nur Sofas, Ottomanen, Teppiche; in der Mitte ein freier Raum, wo eigentlich einzig die Zeltpflöcke noch fehlten. Keine Tische, keine Sessel, keine Stühle. Marutha sagte mir einmal: »Mein Vater war ein Reiter. Er stand, er lag oder er saß zu Pferde. Aber auf einen Stuhl sich setzen, das hat er nie getan.«
Und ich kann bezeugen, daß sie Dich im Familienkreis bei Gelegenheit »Yehudi Tscherkess Menuhin« nannte.
Es ist nicht ausgeschlossen, ja sogar wahrscheinlich, daß Tropfen des Blutes jenes Timur-Leng, auch Tamerlan genannt, eines der größten Eroberer der Weltgeschichte, in den Adern des heutigen Friedenspreisträgers fließen.
Auch Du hättest übrigens, unter anderen Verhältnissen, recht gut ein Kriegsheld werden können. Hattest Du Dich nicht einst gleich beim ersten Versuch mit einer Schußwaffe als treffsicherer Scharfschütze erwiesen? Mit Pfeil und Bogen hättest Du Dich bewährt - doch sind Bogen und Geige Deine eigene Waffe geworden.
Als echter Weltbürger, als fahrender Kosmopolit, gehörst Du keinem Volke an, läßt Dich keiner Kategorie oder Gruppe zuordnen. Du bist ein freier Mensch, frei wie die fernhinziehenden Schwalben. Deine einzige brüderliche Gemeinde bilden alle diejenigen, die, wo immer in der weiten Welt, hören können, ohne hörig zu sein. Ihre Heimat ist auch Deine: das Reich der Töne, das keine Grenzen kennt.
Sohn russischer Eltern, doch als Amerikaner geboren, holtest Du Dir eine Frau aus Australien. Später gingst Du die zweite Ehe mit einer Europäerin ein, mit Diana, in deren englischer Heimat Du als amerikanischer und Schweizer Staatsangehöriger endlich ansässig wurdest. Lin Siao, Dein erster Enkel, ist der Sohn des Pianisten Fu Tsong und damit Sproß einer weithin bekannten chinesischen Gelehrtenfamilie.
Fahrendes Volk muß Sprachen beherrschen, vor allem und jedem. Bei den Menuhins sprach und spricht jeder fließend drei, vier, ja fünf Sprachen. Als Deine Schwester Hephzibah noch ein Kind war, übersetzte sie das Thalia-Fragment von Hölderlins Hyperion vom Deutschen ins Französische. Diese glänzende Arbeit ist heute noch unübertroffen. Deine andere, poetisch überaus begabte Schwester Yaltah verfaßte bereits mit elf Jahren Gedichte in drei Sprachen, scheinbar mühelos: ohne sichtbare Anstrengung alles, wie im Spiel. Es war ein Spiel.
Du selbst warst fünfzehn, damals, als ich Euch kennenlernte. Es waren die schönen Tage von Ville d'Avray, die Zeit, da die Menuhin-Kinder im Park aufblühten; Kinder einer begnadeten Familie, in der stets gelächelt, gelacht und gespielt wurde.
Ist nicht auch die Musik eine Sprache unter den Sprachen? Ja - und nein! Einmal, da mich als jungen Germanisten die vielen gelehrten und tiefsinnig sein wollenden Kommentare zu Wagners Musik irritierten, fragte ich Dich: »Gibt es denn an der Musik etwas zu verstehen? Ich meine: mit dem Verstand zu verstehen? Sagt Musik etwas aus? Spricht sie?« Da erwidertest Du sofort und ohne zu zögern: »Nein.« Du brauchtest erst gar nicht nachzudenken, Du wußtest es ja bereits: an der Musik ist nichts zu verstehen und alles unmittelbar zu empfinden. Was sie uns zu sagen hat, das sagt sie und drückt es in ihrer Weise restlos aus. Was sie ausspricht, läßt sich mit Worten nicht einmal annähernd ausdrücken; und es gibt nichts anderes zu vernehmen als das, was sie sagt. Mit solcher Eindeutigkeit war meine Frage beantwortet worden, und die Angelegenheit war für mich erledigt.
Vielleicht könnte man auch denken, daß die Musik die Ursprache ist, die vor allen Sprachen da war und immer noch bei uns ist, selbst da, wo die Sprachen versagen und aufhören, bedeutend zu sein.
Es läßt sich auch sagen, daß - als Ursprache aufgefaßt - die Musik die einzige Sprache ist, wo nicht gelogen werden kann. Man hat gesagt, die Sprachen seien dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen: nur der reine Ton lügt nicht; nur er trügt nicht.
Allerdings teilt die Musik diese Eigenschaft mit einer anderen exakten Sprache, nämlich mit der Sprache der Zahlen, der Mathematik. Schon die Pythagoräer, aber auch viel später ein Deutscher, ein Schwabe, ein Schüler des Tübinger Stifts, der Astronom Johannes Kepler, haben die Struktur der Welt als stringente Harmonie aufgefaßt, d. h. als eine zugleich mathematische und musikalische Struktur verstanden. Wo die Sprachen der Menschen eben nur menschlich sind und lauter Approximationen bieten, sind Töne und Zahlen unmittelbarer und genauer Ausdruck des Wesens der Dinge: die reine Sprache des Seins.
Dabei muß ich an eine sehr bedeutende Gestalt der deutschen Romantik denken, die jedoch selbst in Deutschland unbeachtet geblieben ist, nämlich an Johann Wilhelm Ritter, über den sein Freund Novalis an Dorothea Schlegel schrieb: »Ritter ist Ritter, und wir sind nur seine Knappen.« »Wir, die Knappen«, das waren die Begründer der deutschen und der europäischen Romantik, die Jenaer Gruppe, Novalis und die Brüder Schlegel. Nun, dieser Ritter schrieb:
Wie das Licht, so ist auch der Ton Bewußtsein, jeder Ton ist ein Leben des tönenden Körpers. (.. .) Ein ganzer Organismus von Oszillation und Figur, Gestalt ist jeder Ton, wie jedes Organisch-Lebendige auch. Es spricht sein Dasein aus. Es ist gleichsam Frage an die Somnambule, wenn ich den zu tönenden Körper mechanisch affiziere. Er erwacht vom tiefen, gleichsam Ewigkeits-Schlafe, er antwortet, und im Antworten (...) ist sich das Leben, der Organismus (...) seiner bewußt. Töne sind Wesen, die einander verstehen, so wie wir den Ton. Akkord, ein Tonverständnis untereinander (...) wird Bild von Geistergemeinschaft, Liebe, Freundschaft usw. Harmonie wird Bild und Ideal der Gesellschaft. Es muß schlechterdings kein menschliches Verhältnis, keine menschliche Geschichte geben, die sich nicht durch Musik ausdrücken ließe. Ganze Völkergeschichten, ja die gesamte Menschengeschichte muß sich musikalisch aufführen lassen, und vollkommen identisch. Denn der hier sprechende Geist ist derselbe wie der unsere. Im Tone gehen wir mit unsers Gleichen um. Dieser Umgang kann zum höchsten für uns werden, da hier darstellbar ist, was im Leben so schwer: ein idealisierter Umgang mit unserer Umgebung. Er kann uns für alles entschädigen, was wir im Leben vermissen.
Aus dem Umgang mit der Welt der Töne hast Du eine Lebensweise, einen Lebensweg, eine Existenz gemacht; die Existenz eines Nomaden, dem die Musik als Paß für die Reise um den Globus dient. Es gibt zwischen der Musik und dem Nomadentum ein vielleicht nicht restlos zu klärendes Verhältnis. In einem einzigen Fall ist es mir gelungen, dieses Verhältnis verstandesmäßig zu erfassen. Ich hatte eine Zeitlang Gelegenheit, mit Zigeunern freundschaftlich zu verkehren. Unter ihnen waren »gitanos« aus Spanien und Zigeuner aus Osteuropa. Einer der letzteren hieß Reinhardt und war der Vetter des berühmten Django Reinhardt. Ich hatte ihnen eine leere Zigarrenkiste geschenkt und auch Saiten beschafft; daraus hatten sie im Gefängnis eine kleine Gitarre zusammengebastelt. Sie erklärten mir, daß die spanische Gitarre und die Geige der Zigeuner die leichtesten und daher die am besten zu transportierenden Musikinstrumente, die überall, wo auch immer sie hinkämen, ja selbst hinter Schloß und Riegel, sofort zur Hand seien, ihnen Gesellschaft leisteten und bei fremden Menschen Gehör verschafften. Dieser Tradition waren Deine Freunde, der Rumäne Enesco, der Ungar Bartók, irgendwie verbunden und verpflichtet - und Du bist es schließlich ja auch. Wie schön sprichst Du von Deinen Geigen, die Dich überall begleiten und Dir so viel mehr bedeuten als »nur« Instrumente, leblose Gegenstände, für die man sie gewöhnlich hält. In Wahrheit sind sie Deine Partner, die Du befragst und die Dir antworten: gleichsam die Frage an die Somnambule, um es mit den Worten Johann Wilhelm Ritters zu sagen.
Dies wirft aber eine Frage auf, die Du mir vielleicht, wie damals in Ville d'Avray, gleich beantworten würdest: besteht Musik denn nur aus Tönen, aus lauter nach einem gewissen Muster zusammengesetzten Tönen? Für mich ist Musik zuerst das Tönen eines Gegenstandes, sei es auch nur das Tönen eines Brettes, eines Glases, einer Blechdose: das Tönen von etwas, das ich gleichsam an seiner Stimme erkenne. Dann ist dieser Ton das Resultat der Geste eines Menschen, eine Geste, die ich mir vorstellen kann. Ich muß mir, sei es auch nur in den Tiefen des Unbewußten, vom affizierten Gegenstand und von der Geste des mit dem Gegenstand spielenden Menschen ein Bild machen können, das ich nachvollziehen kann. Sonst bin ich unbeteiligt; die Emotion bleibt aus. Was nur Ton ist und sich mit dem Tönen eines konkreten Gegenstands, mit der Geste eines Menschen nicht verbinden läßt, ist mir gleichgültig; ich höre weg.
Das würde aber eine Frage aufwerfen: das, was jetzt als neue, moderne Musik gilt, ist in einigen Fällen eben reines Tönen, elektronisch bestimmt und elektronisch erzeugt; es ist weder mit dem Klang eines Instruments noch mit der Geste eines Menschen zu verbinden. Kann das noch Musik heißen, oder sollte man nicht dafür einen anderen, entsprechenderen Namen erfinden?
Dies ist aber hier keine irrelevante, keine müßige Frage, denn ob solch eine elektronische Tonkunst die gleiche harmonisierende, beschwichtigende, heilige und heilende Wirkung hat wie die klassische, sagen wir, wie die orphische Musik, ob sie die Hörenden gleichfalls friedlich zu stimmen fähig ist, bleibt dahingestellt.
Und hier erblicke ich einen weiteren Zusammenhang zwischen der Musik und der Förderung des Friedens.
Du kennst wohl, verehrter Freund, den von Wilhelm von Humboldt definierten Unterschied zwischen ergon und energeia, zwischen Werk und Wirken. Seiner Ansicht nach gehörte die Sprache nicht zur Kategorie der erga, der Werke, des ein für allemal Getanen, sondern zur Kategorie der energeia, des Wirkens. Die Sprache als fertiges Gebäude gebe es nicht; die Sprache sei jeweilig nur im Sprechen da - eine geniale und höchst moderne Ansicht. In diesem Sinne ist Musik ebenfalls keineswegs etwas Fertiges, definitiv Abgeschlossenes, das in seiner Endgültigkeit vorhanden wäre. Die Partitur ist ein stummes Blatt, eine eigentlich mechanische Potentialität, solange sie nicht als ein organisches Wesen wieder auflebt, d. h., erst wenn sie der Interpret tönen läßt; wenn »es singt«.
So ist auch der Friede kein ergon, sondern eine energeia, und wird es nie sein. Der Friede ist kein Werk an sich, sondern ein ständiges Wirken, ein unermüdliches, unverzagtes Bemühen. In diesem Sinne ist wohl auch der Gedanke zu verstehen, den die Trägerin des letztjährigen Friedenspreises, Astrid Lindgren, an dieser Stelle aussprach (ich zitiere):
Über den Frieden sprechen heißt ja über etwas sprechen, das es nicht gibt. Wahren Frieden gibt es nicht auf unserer Erde und hat es auch nie gegeben, es sei denn als Ziel. Solange der Mensch auf dieser Erde lebt, hat er sich der Gewalt und dem Krieg verschrieben.
Dies sei jedoch noch lange kein Grund zu verzweifeln, ganz im Gegenteil. Man müsse nur wissen, daß der Frieden kein Zustand ist, sondern ein Bestreben, von dem nicht zu erwarten, nicht zu erhoffen sei, daß es je ans Ziel gelange - wir sagen heute, kein ergon, sondern eine energeia: Energie.
Das wirst auch Du erlebt haben in den langen Jahren, wo Du als Präsident des Internationalen Musikrates der UNESCO aktiv warst.
Der Weltfriede als Zustand ist eine Utopie, und nicht einmal eine denkbare. So ist es. Wahrscheinlich ist es auch richtig und irgendwie gut, daß dem so ist, wenn uns auch nicht ganz verständlich ist, wie und warum. Die Musik besteht ja nicht aus lauterer Harmonie; auch die Dissonanzen gehören zu ihr; nur gelingt es ihr, sie gelegentlich und zur rechten Zeit aufzulösen.
Die letzten Sätze von Hölderlins Hyperton, die in Frankfurt geschrieben wurden, lauten:
Lebendige Töne sind wir, stimmen zusammen in deinem Wohllaut, Natur! (...) Wie der Zwist der Liebenden sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder. Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glühendes Leben ist Alles.
Laßt die Rose nur Jedes Jahr blühen. Laßt in jeder Generation Orpheus wiedererstehen. Laßt uns ihn erkennen, wenn er einmal unter uns lebt und wirkt.
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