Der Stiftungsrat Friedenspreis des Deutschen Buchhandels hat den deutschen Philosophen Ernst Bloch zum Träger des Friedenspreises 1967 gewählt. Die Verleihung findet während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 15. Oktober 1967, in der Paulskirche statt. Laudator ist Werner Maihofer.
Begründung der Jury
Ernst Bloch,
dem großen Denker unserer Zeit,
dessen Philosophie der Hoffnung neue Wege und Ziele weist,
der die Verhältnisse nicht als Schicksal hinnimmt, sondern als Aufgabe deutet,
der kämpfend und fordernd die Zeit und den Menschen zu wandeln sucht,
der mit der Kraft des Geistes und der Gewalt der Sprache die Menschheit aufrüttelt,
der Überkommenenes in Frage stellt und Überliefertes neu durchdenkt,
der visionär das Bild des Menschen und seiner Zukunft entwirft und Utopie zur Hoffnung werden läßt,
verleiht der Börsenverein des Deutschen Buchhandels den
Friedenspreis 1967.
Reden
Aber wir haben es alle erlebt und erleben es täglich neu, daß die lautstarke und wiederholte Bekundung eines Friedenswillens oft das Gegenteil verdecken soll. Welch widerwärtige Verachtung des Menschen spricht aus jener so häufig erkennbaren - manchmal allerdings nicht so leicht durchschaubaren Diskrepanz zwischen Reden und Handeln!
Friedrich Georgi - Grußwort
Friedrich Georgi
Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels
Grußwort
Im Namen des deutschen Buchhandels heiße ich Sie alle herzlich willkommen und danke Ihnen, daß Sie sich hier in der Paulskirche zu Frankfurt am Main versammelt haben, um gemeinsam mit uns Buchhändlern die Verleihung unseres diesjährigen Friedenspreises an Professor Ernst Bloch zu erleben.
Ich begrüße insbesondere Sie, sehr verehrter Herr Professor Bloch, der Sie heute diesen Preis entgegennehmen, und Ihre verehrte Frau Gemahlin, und Sie, sehr verehrter Herr Professor Maihofer, der Sie das Werk und die Persönlichkeit Ernst Blochs würdigen und damit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels neue Perspektiven öffnen werden.
Ihnen, Herr Ministerpräsident Dr. Zinn, Ihnen, Herr Oberbürgermeister Professor Dr. Brundert, Ihnen, Herr Bürgermeister Dr. Fay, Ihnen, Herr Minister Professor Dr. Schütte, und Ihnen, Herr Bundestagsvizepräsident Schoettle, danke ich mit einem besonderen Willkommensgruß für Ihr Erscheinen und Ihr dadurch bewiesenes erneutes Bekenntnis zu diesem Anliegen unseres Berufsstandes.
Mit herzlicher Freude darf ich als Vertreter der Bundesregierung Herrn Bundesminister Professor Dr. Schiller, den ersten Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, unser Ehrenmitglied Max Tau, sowie unsere Ehrenmitglieder Professor Dr. Eppelsheimer und Bürgermeister a. D. Dr. Leiske begrüßen.
Der Herr Bundespräsident ist leider in diesem Jahre dienstlich verhindert, an unserer Feier teilzunehmen. Er hat uns seine Grüße telegraphisch übermittelt. Ich darf dieses Telegramm verlesen:
Herzlich grüße ich die in der Frankfurter Paulskirche versammelten Mitglieder und Freunde des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Mit der Stiftung des Friedenspreises, der alljährlich an hochverdiente Persönlichkeiten verliehen wird, haben Sie ein auch im Ausland viel beachtetes Symbol für den ehrlichen Willen, unseres Volkes zum Ausgleich, zur Versöhnung und zur Wiedergutmachung geschaffen. Die Namen der von Ihnen Ausgezeichneten sind ein Beweis für Ihr beständiges Bestreben, die vielfältigen Erscheinungsformen des geistigen Lebens in einen fruchtbaren Zusammenklang miteinander zu bringen. Darin sehe ich eine wesentliche Aufgabe des Buchhandels, daß sich in ihm widerspiegelt, was an Gedankenreichtum, Friedensliebe, Gerechtigkeitssinn und Hoffnung in unserer Welt lebendig ist.
Mit meinem Glückwunsch für den diesjährigen Preisträger, Professor Dr. Ernst Bloch, verbinde ich meine guten Wünsche für die künftige Arbeit des Börsenvereins.
Heinrich Lübke - Präsident der Bundesrepublik Deutschland
Auch der Herr Vizekanzler und Bundesminister des Auswärtigen Willy Brandt hat zu diesem Tage ein Telegramm an Herrn Professor Dr. Bloch gerichtet. Es lautet:
Verehrter, lieber Professor Ernst Bloch, ich freue mich über die Wahl des Börsenvereins, Sie mit dem diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels auszuzeichnen. Preis und Preisträger bekunden die Friedensehnsucht des deutschen Volkes. Ihre Person und Ihr Lebenswerk verleihen dem Festakt in der Paulskirche, in der vor über hundert Jahren aufrechte Männer unseres Volkes um Einheit und demokratische Selbstbestimmung rangen, zukunftweisende Bedeutung. Umsomehr bedaure ich, daß ich wegen der Sitzung des Berliner Landesausschusses meiner Partei am 15. Oktober nicht, wie ursprünglich vorgesehen, an der Feier teilnehmen kann. Nehmen Sie deshalb auf diesem Wege meine Glückwünsche entgegen. Bei Ihrem Eintreten für die Achtung vor der Menschenwürde und den Frieden in der Welt wissen Sie mich stets an Ihrer Seite.
Mit meinen besten Grüßen Willy Brandt
Allen, die Sie hier in der Paulskirche oder am Fernseh- oder Rundfunkgerät an unserer Feier teilnehmen, gilt unser Gruß und unser Dank für die Verbundenheit, die damit zum Ausdruck gebracht wird - Verbundenheit mit einer Manifestation des Friedenswillens der geistigen Repräsentanz unserer Nation, als deren Glied sich der deutsche Buchhandel empfindet und für die mitzusprechen und mitzuhandeln er sich berechtigt fühlt - solange er die Voraussetzung dafür durch sein eigenes Verhalten erfüllt. Ihre Teilnahme an der Feierlichkeit dürfen wir so verstehen, daß Sie diesen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels nicht als Anmaßung eines zahlenmäßig kleinen und wirtschaftlich unbedeutenden Berufsstandes empfinden, sondern auch zu Ihrer eigenen Sache machen und uns bestärken wollen, diesen Weg weiter zu gehen und gewissermaßen das Mandat erteilen, dieses Bekenntnis zum Frieden in Ihrer aller Namen abzulegen.
Es spricht sich heute so leicht dahin -ein Bekenntnis zum Frieden abzulegen. In der ganzen Welt wird von Frieden und Friedenswillen gesprochen. Das gehört zum guten Ton, ist mehr oder weniger selbstverständlich und sehr bequem! Aber wir haben es alle erlebt und erleben es täglich neu, daß die lautstarke und wiederholte Bekundung eines Friedenswillens oft das Gegenteil verdecken soll. Welch widerwärtige Verachtung des Menschen spricht aus jener so häufig erkennbaren - manchmal allerdings nicht so leicht durchschaubaren Diskrepanz zwischen Reden und Handeln!
Wir erleben dies bei Staatsmännern und Politikern, aber auch bei anderen Menschen, die sich irgendwie zu diesem Thema öffentlich äußern. Wir sollten uns angewöhnen, solche Äußerungen kritisch und mit Vorbehalt aufzunehmen, sie auf ihre Wahrhaftigkeit zu prüfen und alle diese Menschen mehr an ihren Taten als an ihren Worten zu messen. Alle Schönfärberei oder devotes Schweigen gegenüber dem Mißbrauch der Macht - der politischen, der wirtschaftlichen wie der publizistischen – kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Welt noch nicht eine Welt des wirklichen Friedens ist, also Welt ohne Machtgier, Feindschaft, Habsucht und Erniedrigung. Viele Menschen, ja ganze Völker, müssen um die Erringung oder die Erhaltung ihrer Freiheit kämpfen, obgleich - oder gerade weil sie in Frieden leben wollen.
Was wir unter Frieden verstehen, ist nicht die aus dem Gleichgewicht des Schreckens und der Macht resultierende Waffenruhe, ist nicht die aus Ohnmacht erwachsende Unterordnung unter die Gewalt, ist nicht das mehr oder weniger resignierende Abfinden mit der Unfreiheit - auch und vor allem nicht der Unfreiheit anderer -, ist nicht die auf Gleichgültigkeit und Egoismus basierende und so bequeme Zumutung an andere, »um des lieben Friedens willen« auf unabdingbare Menschenrechte zu verzichten.
Der Friede, den wir meinen, schließt begriffsnotwendig die geistige Freiheit und die Freiheit des Menschen als eines der höchsten Menschenrechte ein, ohne die die Menschenwürde nicht gewahrt wäre. Ein Bekenntnis zum Frieden wird also immer dann fragwürdig, wenn nicht gleichzeitig damit das Bekenntnis zur Freiheit - und zwar insbesondere der Freiheit des Anderen - abgelegt wird. Frieden und Freiheit dürfen niemals Alternativen sein, sie bilden - sich gegenseitig bedingend - ein gemeinsames Fundament des menschenwürdigen Daseins. Um dieses Fundament geht es, und um dieses Fundament muß gerungen werden und wird gerungen - immer wieder in der Geschichte der Menschheit , und - wie es manchen von uns scheint - immer wieder vergeblich. Ist diese Vorstellung von einem solchen Fundament des menschlichen Lebens in der Gemeinschaft der Völker eine Utopie oder eine Hoffnung oder beides?
Wenn die Menschen nichts dazu tun, wird es jedenfalls niemals zu einer Realität. Also ist jeder von uns dazu aufgerufen, das Seinige zu tun. Ohne soziale Gerechtigkeit innerhalb eines Volkes und im Verhältnis der Völker zueinander, ohne Toleranz, ohne Versöhnung und Vergebung und vor allem ohne Achtung vor der Würde und dem Recht des Anderen werden die Menschen dieses Ziel nie erreichen.
Der Friede, wie wir ihn verstanden wissen wollen, ist bislang nicht erreicht. Solange Millionen hungern oder in sklavenähnlichem Zustand gehalten die geistige Freiheit entbehren müssen, so lange bleibt dieser Frieden überhaupt unerreichbar. Er ist aber eines der Ziele, die für die Menschheit wichtiger sind als die Erkundung des Mondes oder die Erforschung der Tiefsee, offenbar aber auch sehr viel schwieriger und entfernter.
Viele Menschen sind jedoch nun so weit, daß sie wenigstens dieses Ziel sehen, und wir Buchhändler im freien Teil Deutschlands sollten alles, was in unserer Macht und unserer Kraft steht, dazu tun, daß mehr und mehr Menschen dieses Ziel erkennen und auch anstreben. Einzelne wissen auch Wege, die zu diesem Ziel führen - oder glauben wenigstens, sie zu wissen. Streiten wir nicht um den Weg, wenn wir uns über das Ziel einig sind. Ganz gewiß gibt es mehrere Wege, die zu diesem Ziel führen, und ganz gewiß werden die Menschen, die guten Willens sind, dieses Ziel auf verschiedenen Wegen zu erreichen suchen. Weil wir aber glauben, sehr verehrter Herr Professor Bloch, daß Sie einen der Wege sehen und den Menschen aufzuzeigen vermögen, verleihen wir Ihnen, dem so leidenschaftlichen Kämpfer, der alles Überkommene immer wieder in Frage stellt, weil er die Hoffnung niemals aufgeben wird, in diesem Jahre den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
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Friedrich Georgi
Grußwort des Vorstehers
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels ehrt mit der Verleihung seines diesjährigen Preises den freien Geist eines großen Mannes und sein Werk für den Frieden in unserer künftigen Welt. Er ehrt sich damit selbst und unsere freie und offene Gesellschaft. Vielen ein Zeichen. Es geht wieder Hoffnung um in unserem Lande.
Werner Maihofer - Laudatio auf Ernst Bloch
Werner Maihofer
Auf den Friedenspreisträger 1967
Laudatio auf Ernst Bloch
Sie verleihen Ernst Bloch den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Sie ehren ihn damit als einen Denker, der mit seinem Werk einen Beitrag zum Frieden dieser Welt geleistet hat. Worin ist dieser begründet?
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Ernst Bloch ist weder den besonderen Friedensforschern noch den Philosophen des Atomzeitalters zuzurechnen, die Sie an dieser Stelle geehrt haben. Der Beitrag seiner Philosophie der Hoffnung zum Thema Krieg und Frieden ist anderer Art. Er erschöpft sich nicht darin, daß diese Philosophie die Idee des »ewigen Friedens« als eine der höchsten Hoffnungen des Menschen nach einem besseren Leben in einer vollkommeneren Welt erinnert, die noch nicht ist, aber doch als objektiv-reale Möglichkeit im Vorschein solcher konkreter Utopien wie der kantischen »Weltbürgerlichen Gesellschaft« am politischen Horizont herauf zu dämmern beginnt.
Sein Beitrag beschränkt sich auch nicht darauf, daß dieser Philosoph den »undiskutierbaren Krieg« noch inmitten der Wogen überschäumender Kriegsbegeisterung nach 1914 als eine äußerste Verirrung der Menschheit begreift, an die sich für ihn allein die Hoffnung knüpft, daß dieser »furchtbarste Hohn auf die Würde der Person« eine »Wasserscheide« sei, »ein himmelschreiender Gebirgsstock, wohl dazu geeignet, jegliche Ausbeutung vollkommen unerträglich zu machen«.
Ernst Blochs Beitrag geht über solche denkerische Befassung mit dem Frieden und solchen grundsätzlichen Einspruch gegen den Krieg weit hinaus, so gewichtig schon damit sein Anteil an der Wiedererinnerung des Friedens als einer noch unabgegoltenen Sehnsucht des Menschen, als eines humanen Utopikums und höchsten Gutes in der Philosophie der Moderne bezeichnet ist, gegenüber einer seit Hegel und Nietzsche vorherrschenden Tradition der Kriegsrechtfertigung, wenn nicht Kriegsverherrlichung. Sein des Preises würdiges Wirken für den Frieden in dieser Welt liegt in der Wirkung seines Werkes selbst, als eines Brückenschlages zwischen bislang durch einen Abgrund von Fremdheit und Feindschaft getrennten Welten des Geistes.
So wie Paul Tillich, der vor ihm geehrte verstorbene Freund: Theologe und Sozialist, in seiner Person exemplarisch für unsere Epoche jenen geistigen Überschritt über eine bis heute durch weltanschauliche Sperren verlegte Grenze vollzogen hat: die zwischen Christentum und Sozialismus, so vollzieht auch Ernst Bloch: Philosoph und Sozialist, in einem halben Jahrhundert harter Lebensarbeit einen nicht minder kühnen Überschritt über Grenzen, deren Infragestellung noch heute den Begrenzten Hier wie Dort als unmöglich oder doch unerlaubt gilt, und deren Überwindung doch für den geistigen Fortschritt der Menschheit unerläßlich scheint.
Die in diesem Lebenswerk vollbrachte geistige Leistung und ihre geschichtliche Bedeutung vermögen wir angemessen zu erfassen nur, wenn wir uns die gedankliche Herkunft und damit die ursprüngliche Richtung des Denkens vergegenwärtigen, aus der dieser Überschritt in andere Welten des Geistes gewagt worden ist.
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Ernst Blochs Denken ist konkret und existenziell: vom Hunger »wünschender Bedürfnisse« angetrieben, vom »Traum« drängender Sehnsüchte erfüllt, nach Vermittelung des Menschen nicht nur mit den materiellen: leiblichen, sondern ebenso auch den immateriellen: geistigen Bedingungen seines Seins in der Welt der Natur und des Menschen. Es läßt sich daher mit der Vokabel »marxistisch« so wenig fassen, wie der originale Marx selbst, der diese Bezeichnung schon für sein eigenes Denken nach einem berühmten Diktum zurückgewiesen hat. Es ist unverfälschter Philosophischer Materialismus, ohne Abzug und Abstrich für den Tagesgebrauch und Gemeinverstand. Mit dieser genuin ebenso philosophischen wie politischen Intention macht Bloch wie kaum ein anderer »Marxist« in unserer Zeit vollen Ernst, indem er den »Marxismus« nicht als ein für sich bestehendes, von aller Tradition isoliertes Denken behandelt, das in seiner üblichen Verarmung und Verengung allenfalls noch einige wenige materialistische und dialektische Klassiker von Demokrit bis Hegel als »Vorläufer« gelten läßt, sondern den Philosophischen Materialismus und Politischen Sozialismus als die Erfüllung und Vollendung menschlichen Denkens und Glaubens der Vergangenheit überhaupt begreift, getreu dem großen Marxwort: »Es wird sich ... zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von dem sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich dann zeigen, daß es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit.«
Eben auf diese bewußte Vollziehung der höchsten Gedanken der Vergangenheit von den Denkvoraussetzungen des Philosophischen Materialismus und Politischen Sozialismus aus, der Erinnerung des auch für den Materialismus Unerledigten, für den Sozialismus Unabgegoltenen an Idealismus und Christentum, an bürgerlichem Naturrecht und liberaler Demokratie, zielt Ernst Blochs gesamtes, erst in den heutigen Neuausgaben allmählich an eine breitere Öffentlichkeit tretendes Werk.
In ihm vollzieht sich nicht weniger als ein vierfacher Überschritt über im öffentlichen Bewußtsein Hüben wie Drüben heute noch durch Abgründe getrennte Welten des Geistes: der von Materialismus und Idealismus, von Atheismus und Christentum, von Sozialutopie der »klassenlosen Gesellschaft« und Naturrecht der »weltbürgerlichen Gesellschaft« und von Sozialismus und Demokratie. Er führt für das marxistische Denken selbst zur Aufschließung und Rückgewinnung ihm bisher unzugänglicher Bereiche unserer philosophischen und politischen Tradition, ebenso aber auch für das außermarxistische Denken zur Eröffnung vielfältiger bisher noch unerforschter Zugänge zu einem hier weiter gedachten Philosophischen Materialismus und größer gefaßten Politischen Sozialismus.
Was Ernst Bloch mit dieser, nach seinem Weggang aus der DDR als »Revision des Marxismus« verketzerten Evolution des materialistischen und sozialistischen Denkens an geistigem Durchbruch durch die ideologischen Grenzen von Heute in eine Welt von Morgen, jenseits dieser Begrenzungen, exemplarisch für unsere Epoche vollbracht hat, wird erst die Nachwelt recht und gerecht zu beurteilen vermögen. Wir können so im Folgenden nur versuchen, das uns schon heute Sichtbare und Einsichtige dieser die Brücken zu einer neuen »Einheit der Gegensätze« schlagenden produktiven Synthese im Denken Ernst Blochs als geistige Leistung in ihrer geschichtlichen Bedeutung für den friedlichen Fortschritt in unserer Welt zu würdigen.
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Blochs Evolution des Philosophischen Materialismus, die diesen herausführt aus der Verengung und Verarmung des heutigen Vulgärmaterialismus, erfolgt nicht im Bruche mit Marx, sondern in voller Treue zu dem noch nicht zum »Marxisten« herabgebrachten Philosophen Marx, der einmal selbst zur Kategorie der Materie gesagt hat: »Unter den der Materie eingeborenen Eigenschaften ist die Bewegung die erste und vorzüglichste, nicht nur als mechanische und mathematische Bewegung, sondern mehr noch als Trieb, Lebensgeist, Spannkraft, als Qual - um den Ausdruck Jakob Böhmes zu gebrauchen - der Materie.« Von diesem so ganz »unmaterialistischen» Marxsatz aus der »Heiligen Familie« schlägt Bloch mit vollem Recht eine Beziehung zurück zu der als Idealismus sonst so leichthin zur Seite geschobenen Tradition der Philosophie insgesamt, bis hin zu Aristoteles. So wie ihm Hegel »wichtig ist durch die dialektische Methode«, so werden ihm »Aristoteles und seine Linke« bis hin zu Avicenna »wichtig wegen ihres Begriffs von Materie«. Denn wie nach Blochs Worten »Heraklit als erster den Widerspruch in den Dingen selber sah, so hat Aristoteles als erster die Möglichkeit realiter im Weltbestand selbst erkannt«. Real Mögliches wird von hier ab begreifbar als Potenz der Substanz der Materie selbst, die (wie Bloch sagt:) »als gebärender Schoß« alle »ihre Formen und Formgestalten potentiell enthält« und »sie zugleich mit eigener Potenz ans Licht führt«. Die reale Möglichkeit wohnt danach »in keiner fertig gemachten Ontologie des Seins des bisher Seienden, sondern in der stets neu zu begründenden Ontologie des Seins des Noch-Nicht-Seienden, wie sie Zukunft selbst noch in der Vergangenheit entdeckt und in der ganzen Natur«.
Im Gegensatz zu Aristoteles, aber im Einklang mit der »aristotelischen Linken«, wird damit von Bloch die in der Materie steckende schöpferische Form und Kraft, die in ihnen jeweils »ausgeprägte Entelechie als selber noch unvollendete begriffen ..., als prozeßhafte Gestalt, wie eben deshalb als Reihe von Versuchsgestalten, Auszugsgestalten der Materie. Und das .. . kraft des weiterlaufenden >In-Möglichkeit-Seins<, also der objektiv-realen Möglichkeit, deren Substrat die Daseinsmaterie insgesamt darstellt, die in ihren Horizonten noch unabgeschlossene«. Eben dieses »Noch-Nicht-Sein« ist so das Treibende und Schöpferische in der Materie selbst, nach einem von Bloch erinnerten berühmten Worte des Leibniz: die Gegenwart also gleichsam, »die mit der Zukunft schwanger geht«. Auch der Mensch ist darum für Bloch nicht nur »die reale Möglichkeit alles dessen, was in seiner Geschichte aus ihm geworden ist«, sondern vor allem dessen, was »mit ungesperrtem Fortschritt noch werden kann«. Auch der »Prozeß in diese Zukunft« ist für Bloch aber »einzig der der Materie, die sich durch den Menschen als ihrer höchsten Blüte zusammenfaßt und zu Ende bildet«.
In solcher Neubestimmung der »Kategorie Materie« hat die Dialektik, die aus dem im materiellen Sein hier und dort hegenden Widerspruch und Widerstreit hervorgetrieben wird, in der Tat, wie Bloch selbst bemerkt, »die engste Verbindung mit dem Prozeß erreicht«, wie er zugleich aus der Dialektik der schöpferischen Formen im »gebärenden Schoß« der Materie selbst vor sich geht; als einem aus dem In-Möglichkeit-Sein der Dinge aber Noch-Nicht-Sein in der Welt hervorgetriebenen Realprozeß, bewegt von der »Tendenz-Latenz« der »Realfiguren« und »Prozeßgestalten« in den Weltdingen selbst.
In dieser Evolution des Philosophischen Materialismus werden so die Umrisse eines modernen Philosophischen Realismus sichtbar, der, bei aller Absage an freischwebende Idee und Seele und Zugabe allenfalls von formkräftiger und geistbeseelter Materie, jenseits der durch ihn wesenlos werdenden Entgegensetzungen von orthodoxem Materialismus und Idealismus liegt.
Ernst Blochs auf diesen ontologisch-anthropologischen Voraussetzungen errichtete »Ontologie des Noch-Nicht-Seins« und nur aus ihr verstehbare Philosophie der Hoffnung erhebt sich so schon im Ansatz über diese traditionellen Standorte, zwischen denen heute noch Welten zu liegen scheinen.
Von noch größerer Tragweite in unserem Zusammenhange als diese Einholung des unerledigten Erbes des Idealismus von Aristoteles bis Hegel in den Materialismus, ist jedoch die von Ernst Bloch eingeleitete Erinnerung des seit Feuerbach und Marx mit diesem Philosophischen Materialismus verbundenen Atheismus, an das nach wie vor unerledigte Erbe im Christentum, von der nun eingehender zu sprechen ist.
Der aus der Religionskritik Ludwig Feuerbachs in die Sozialkritik bei Karl Marx umschlagende Atheismus hatte zunächst für das Christentum, wie die Religion überhaupt, nurmehr Formeln wie »illusionäre Blume«, »Opium des Volkes« bereit. Marx sieht anders als Feuerbach nur noch jene Vorderseite des rechten Christentums, das in den »vergangenen Kirchenjahrhunderten« auf eine fast ausschließlich ideologische Funktion göttlicher Rechtfertigung und theologischer Bemäntelung der bestehenden Verhältnisse sich eingelassen hat. Auf diese böse Seite des Christentums zielt jenes, auch von Bloch bekräftigte, bittere Marxwort, das sich in seinem Nachlaß findet: »Die sozialen Prinzipien des Christentums haben jetzt achtzehnhundert Jahre Zeit gehabt, sich zu entwickeln ... Die sozialen Prinzipien des Christentums haben die antike Sklaverei gerechtfertigt, die mittelalterliche Leibeigenschaft verherrlicht und verstehen sich ebenfalls im Notfall dazu, die Unterdrückung des Proletariats, wenn auch mit etwas jämmerlicher Miene, zu verteidigen. Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen die Notwendigkeit einer herrschenden und einer unterdrückten Klasse und haben für die letztere nur den frommen Wunsch, die erstere möge wohltätig sein.«
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Über diesem ideologiekritischen Einspruch ging im späteren Vulgärmaterialismus die Einsicht in jene ganz andere Kehrseite des linken Christentums immer mehr verloren, das, vom Liebeskommunismus der christlichen Urgemeinde an bis zu den mittelalterlichen Bauernaufständen der Täuferchristen eines Thomas Münzer, auch geschichtlich zugleich die genau umgekehrte: utopische Funkdon der permanenten Revolte gegen die bestehenden: unchristlichen Verhältnisse wahrgenommen hat. Daß hier auch für den materialistischen Atheismus ein unerledigtes christliches Erbe einzuholen und anzutreten war, lag auf der Hand. Aber es bedarf dazu wohl der Unbefangenheit und Unerschrockenheit eines freien und großen Geistes, so Selbstverständliches und Handgreifliches gegen äußeres Tabu und innere Zensur in einer Zeit und Welt wahr nehmen und wahr haben zu können, in der Atheismus und Christentum nach landläufigem Verständnis Hier wie Dort sich in vermeintlicher Todfeindschaft entgegenstehen.
Ernst Bloch hat dieses Unmögliche geleistet. Er geht hinter Marx auf den im orthodoxen Marxismus heute fast verschwiegenen Erzvater des materialistischen Atheismus zurück, von dem er im Prinzip Hoffnung sagt: »Wenige haben ... das religiös Unabgegoltene während des neunzehnten Jahrhunderts stärker gefühlt ... als Feuerbach, der so sehr bedeutende Atheist. Trotz der Enge, ... in der er seinen Begriff vom Menschen hält, ist Feuerbach eine religionsphilosophische Wende; von ihm ab beginnt die letzte Geschichte des Christentums. Denn er wollte nicht nur ein Totengräber der überlieferten Religion sein - ein leichtes Amt hundert Jahre nach Voltaire und Diderot -, er war vielmehr gepackt vom Problem des religiösen Erbes.«
Dieses: Christentum und Atheismus verbindende »religiöse Erbe« sieht Bloch jedoch nicht nur wie Feuerbach in der gemeinsamen humanen Substanz des hier »geistlichen«, dort weltlichen Aufstandes der »Mühseligen und Beladenen« gegen die bestehenden: unmenschlichen Verhältnisse, sondern in der gemeinsamen utopischen Funktion der hier jenseitigen dort diesseitigen Hoffnung und Verheißung eines endlich anbrechenden »Reiches der Freiheit«.
So kann Bloch nicht nur sagen: »Das Ziel aller höheren Religionen war ein Land, wo Milch und Honig so real wie symbolisch fließen; das Ziel des inhaltlichen Atheismus, der nach den Religionen übrigbleibt, ist genau das gleiche - ohne Gott, aber mit aufgedecktem Angesicht unseres Absconditum« (: dem des Menschen) »und der Heils-Latenz in der schwierigen Erde«. Feuerbachs »Anthropologisierung der Religion« setzt darum für ihn genau jenen dynamischen und nicht statischen: »utopischen Begriff vom Menschen voraus«, jenen »homo absconditus« als ein noch immer verborgenes und ungewordenes Wesen, »gleich wie der Himmelsglaube allemal einen Deus absconditus in sich trug, einen versteckten, einen latenten Gott«.
Und wenn darum für Bloch der Satz gilt: »Wo Hoffnung ist, ist Religion«, dann wirkt für ihn gerade wegen dieses noch unerschöpften Hoffnungsinhaltes »das Christentum, mit seinem kräftigen Startpunkt und seiner reichen Ketzergeschichte, als wäre hier ein Wesen der Religion endlich hervorgekommen«. Und darum raubt für ihn auch keine anthropologische Kritik der Religion diese »Hoffnung, auf die das Christentum aufgetragen ist; sie entzieht dieser Hoffnung einzig das, was sie als Hoffnung aufhöbe und zur abergläubischen Zuversicht machte: die ausgemalte, ausgemachte ... als real hypostasierte Mythologie ihrer Erfüllung«.
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Solche hier »atheistisch« betriebene Entmythologisierung der Religion unterscheidet sich von der heute christlich umgehenden in nichts in ihrer Zielsetzung, allenfalls in ihrem Ausgangspunkt. Hier wie dort ist mit Nietzsche Gott als eine supranaturale Person in einer überwirklichen Welt tot. Hier wie dort ist im Diesseits oder Jenseits festgemachte Hoffnung, aber nicht ausgemachte Zuversicht. Und für den Atheismus wie für das Christentum bleibt es dabei, nach dem erstaunlichen Worte des »Atheisten« Bloch über Jesus: »Ein Mensch wirkte hier als schlechthin gut, das kam noch nicht vor. Mit einem eigenen Zug nach unten, zu den Armen und Verachteten, dabei keineswegs gönnerisch. Mit Aufruhr nach oben, unüberhörbar sind die Peitschenhiebe gegen die Wechsler und alle, welche die Meinen betrüben.« Aber es bleibt auch mit Bloch dabei: »Jesus ist genau gegen die Herrenmacht das Zeichen, das widerspricht, und genau diesem Zeichen wurde von der Welt mit dem Galgen widersprochen: das Kreuz ist die Antwort der Welt auf die christliche Liebe.«
Wie könnte darum der wahre Atheist, angesichts solcher gemeinsamen humanen Substanz wie utopischen Funktion seiner Religion, Antichrist sein? Könnte nicht eher für dieses hier sich vorbereitende Denken und Glauben, in einer erst heraufscheinenden Welt der Zukunft, jenseits dieser bis ins Politische Innen und Außen sich fortsetzenden ideologischen Fronten und weltanschaulichen Grenzen, an denen für beide Seiten heute noch »die Welt« aufzuhören scheint, einmal der Satz und sein Gegensatz gelten, die beide einen qualitativen Sprung des menschlichen Bewußtseins voraussetzen: Ohne Atheismus kein wahres Christentum, aber auch: ohne Christentum kein wahrer Atheismus?
Nicht nur hier von der einen Seite: der des Atheismus in der Philosophie der Moderne, sondern mehr und mehr auch der des Christentums in der Theologie der Moderne, kündigt sich dieser grundlegende Wandel des Bewußtseins, in dem eine neue Welt von Morgen sich vorbereitet, kraftvoll an, zu dem es da bei Bloch so bedenkenswert heißt: »Eben wegen dieser Bewährung bleibt die Menschensohn-Mystik, bis in Feuerbachs Anthropologisierung hinein, auch wenn, gerade wenn Deus Optimus Maximus nicht über Sternen wohnt: der Atheist, der das unter Gott Gedachte als eine Anweisung zum unerschienenen Menscheninhalt begriffen hat, ist kein Antichrist.« Hier wird der bisherige Gegensatz von Christentum und Atheismus, an dem sich noch nicht lange Kreuzzugsstimmung entzünden konnte, so gegenstandslos wie für uns heute der Unterschied christlichen Abendmahls in zweierlei: katholischer und evangelischer Gestalt, der einmal blutige Kriege zwischen Christen zu entfesseln vermochte.
Auf dieser bei Bloch erreichten neuen Ebene des Denkens und Glaubens allein kann der Boden für ein künftiges Zusammenstehen und Zusammenwirken der als atheistisch und christlich sich bekennenden Hälften unserer Welt gewonnen werden, in gemeinsamer Abwehr gegen das Ahumane: des Unmenschlichen, unter welchen politischen oder konfessionellen Vorzeichen auch immer es auftritt, in gemeinsamer Beförderung des Humanen: des Menschlichen, auf das es schon Marx nach seinem von Bloch in die Mitte auch seines Denkens gerückten, unmittelbar aus Feuerbachs Kritik der Religion gefolgerten »kategorischen Imperativ« allein ankommen kann, der da lautet: »Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verächtliches, ein verlassenes Wesen ist.«
Aus dem Einspruch gegen das Überschlagen und Vergessen dieses aus der Theologie überkommenen religiösen und humanen Erbes im »Marxismus« kann darum Ernst Bloch schon 1919, in seinen »Frühen kritischen Aufsätzen« unter dem Titel »Durch die Wüste«, gegen den »hilflosen Aufkläricht« des damals regierenden Vulgärmaterialismus die Worte Hegels wenden, der einmal sagt: »Der Geist ist so arm geworden, daß er gleich dem Wanderer in der Wüste nach wenig mehr als einem Schluck Wasser begehrt; an diesem, woran dem Geist genügt, ist die Größe seines Verlustes zu ermessen«; wozu Bloch damals wie heute gültig bemerkt: »Nie bestand dieses Wort Hegels sinnfälliger zu Recht als vor der nackten Wirtschaftsorientierung, vor dem eigenen Bornement auch in orthodoxer Marxbürokratie, die vergessen hat, daß Sozialismus Theologie war, bevor er Nationalökonomie wurde, und erst recht wieder Theologie bleibt, illusionslose, nachdem er Nationalökonomie geworden ist.«
Eben diese nicht nur leiblichen, sondern geistigen Zielsetzungen der Tagträume des Menschen nach Vorwärts, von einem »besseren Leben« in einer »menschlicheren Welt«: des aus solchen Voraussetzungen eines philosophischen Materialismus folgenden politischen Sozialismus, sind das zweite große Thema Ernst Blochs in seinem lebenslangen denkerischen Ringen gegen Abfall von der Größe solcher Sache. Auch hier gelangt er zu einer schöpferischen Evolution des Sozialismus, dessen Bedeutung und Wirkung die seiner Evolution des Materialismus schon heute eher noch übersteigen.
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Der aus der Sozialkritik an den ökonomischen Prinzipien des Kapitalismus entstandene Politische Sozialismus des Trierer Bürgersohnes Karl Marx hatte für die aus der Französischen Revolution und ihrer Erklärung der Menschenrechte des freien, gleichen und brüderlichen Bürgers hervorgebrachte Gesellschaft, nach dem Bilde, die sie in seiner Zeit der nachfolgenden Reaktion der alten Aristokratie und Bourgeoisie darbot, nurmehr das Verdikt dieses seines kategorischen Imperativs bereit. Sie war ihm eine unmenschliche Gesellschaft, die den Menschen nur mit »nationalökonomischen, aber nicht mehr mit menschlichen Augen« sah, ihn nicht mehr als »Menschen«, sondern bloß als »Ware Arbeitskraft« betrachtete und benutzte. Sie erscheint so auch dem späteren marxistischen Sozialismus am Ende nurmehr als eine Gesellschaft der »Ausbeutung des Menschen durch den Menschen« und der »Entfremdung« des Menschen von seinem wahren Wesen, der er das radikale Postulat einer »Vermenschlichung der menschlichen Verhältnisse« in der gesamten »gesellschaftlichen Menschheit« entgegensetzt.
Über dieser bis heute fortwirkenden pauschalen Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft, unter dem ausschließlichen Vorzeichen des Kapitalismus, geriet immer mehr, schon bei Marx selbst in seinen späteren Jahren der nationalökonomischen Studien des »Kapital«: über die Verfallstendenzen der »kapitalistischen Gesellschaft« bis hin zu ihrem Umschlag in die »proletarische Revolution« der »Expropriation der Expropriateure«, in Vergessenheit, daß diese bürgerliche Gesellschaft noch etwas anderes als Erbe in sich trug als diesen »Kapitalismus«. Nämlich: das Erbe des bürgerlichen Naturrechts der Aufklärung und die aus seiner Rechtsutopie einer »bürgerlichen Gesellschaft« größter und gleicher individualer Freiheit und Sicherheit hervorgehende Demokratie der Französischen Revolution.
So setzte Marx zwar mit vollem Recht dem überkommenen feudalen und bourgeoisen Kapitalismus jener Gründerzeit die Sozialutopie seiner »klassenlosen Gesellschaft« entgegen, in der nicht nur negativ die Ausbeutung durch diese bisher herrschenden Klassen abgeschafft, sondern die größte und gleiche Befriedigung der individuellen Bedürfnisse und Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten eines Jeden, ohne Rücksicht auf Stand und Besitz, gewährleistet werden soll. Darüber blieb jedoch am Ende vergessen, daß solche Befreiung des Menschen von der Ausbeutung durch einzelne Menschen, weder ohne weitere Vorkehr vor dem Rückfall in eine neue Ausbeutung des einzelnen Menschen durch die Gesellschaft, noch gegen seine aus dieser Ausbeutung finanzierte und organisierte Verknechtung durch die Gesellschaft sichert.
Der Fall Naturrecht ist bei Marx, wie Bloch hierzu schon früh bemerkt: »zweifellos kompliziert«. Marx steht in der Tat »zum Naturrecht sehr oft so, als sei es zu den Akten gelegt, zu den bürgerlichen Akten«. Andererseits spricht »die bürgerliche Reaktion das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch« bezeichnend von eben diesem Naturrecht »nur mit Verachtung und Haß«. Gereicht nicht gerade dieser Haß aber (so fragt Bloch) dem Naturrecht »zur Ehre, zeigt er nicht ein mögliches, ein bedenkenswertes Erbsubstrat an ihm an?«.
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Überraschend war noch im Marxismus-Leninismus der Revolutionszeit, selbst beim frühen Stalin, die Erinnerung wach, daß es an der bürgerlichen Gesellschaft, bei aller Ausschlagung des kapitalistischen Erbes an ihr, noch ein anderes Erbe gab, das es eben für das »siegreiche Proletariat« anzutreten galt. Hören wir doch selbst Stalin damals, unter Bezug auf jene Menschenrechtserklärungen der Französischen Revolution, sagen: »Das Banner der bürgerlich-demokratischen Freiheiten ist über Bord geworfen. Ich denke, daß Sie, die Vertreter der kommunistischen und demokratischen Parteien, dieses Banner wieder erheben und vorantragen müssen, wenn Sie die Mehrheit des Volkes um sich sammeln wollen. Es gibt sonst niemanden, der es erheben könnte.« Diese selbst im Ursprung der russischen Revolution noch so mächtige politische Intention, das Erbe der demokratischen Errungenschaften der bürgerlichen Aufklärung und der aus ihr hervorgehenden Französischen Revolution unverfälscht in der proletarischen Revolution weiter zu tragen, gerät im späteren Stalinismus, und nicht nur dort, in gänzliche Vergessenheit. Dabei wurde unter der in all diesen sozialistischen Staaten etablierten absoluten Demokratie, genannt: Volksdemokratie, ohne wirksame Grundrechtsgarantien und Minderheitenschutz, Koalitionsfreiheit und Pressefreiheit, immer offenkundiger, daß hier im Prinzip etwas verfehlt sein mußte, wenn auch in diesem System der uneingeschränkten Volksherrschaft Entartungs- und Verfallserscheinungen wie Persönlichkeitskult und Cäsarenwahn aufkommen konnten. Mit ihnen drohte und droht dem Politischen Sozialismus die permanente Perversion in das Gegenteil dessen, wozu er angetreten war: zur Herbeiführung eines »Reiches der Freiheit«, in dem die freie Befriedigung der Bedürfnisse und Entfaltung der Fähigkeiten eines Jeden ihre Grenze allein an der aller Anderen finden sollte.
Hier »Remedur zu schaffen« innerhalb der marxistischen Parteien selbst, dazu hatten nur wenige, wie die bei uns so verkannte Rosa Luxemburg gegen Lenin, den Mut und die Kraft. Und sie scheiterten alle. Hiergegen in einer »theoretischen Revolution« oder doch zumindest Evolution des offiziellen Marxismus-Leninismus als marxistischer Denker anzugehen, ohne Rücksicht auf den billigen Beifall des »Klassenfeindes« draußen, einfach um der Bewahrung der hohen Sache des Sozialismus willen, das haben nur Einzelne gewagt. Einer unter ihnen war und ist Ernst Bloch.
Die politische Intention seines »schöpferischen Marxismus«, der für ihn allein »unsere Zeit ist, in Gedanken gefaßt«, geht dabei auf eine zweifache Evolution des Sozialismus über die in ihm als Sozialstaat neu gewonnenen sozialistischen Errungenschaften hinaus. Zum einen: Wiedererinnerung des naturrechtlichen Erbes der bürgerlichen Aufklärung und ihres »Aufstandes des Menschen« aus geistiger Unmündigkeit und obrigkeitlicher Botmäßigkeit zum »aufrechten Gang« eines selbständigen und selbstverantwortlichen Wesens. Zum anderen: Wiedergewinnung des Erbes der Französischen Revolution und ihrer demokratischen Errungenschaften der Menschen- und Bürgerrechte. Er gehört damit zu jenen wenigen Menschen unserer Zeit, deren Denken auf dem Boden einer neuen Epoche angelangt ist: dem einer wahrhaft klassenlosen und weltbürgerlichen Gesellschaft mit wahrem Sozialismus in heiler Demokratie.
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Dieses sein Denken ist bewegt vom unverfälschten humanen Pathos der proletarischen Revolution gegen alle Ausbeutung, aber früh auch schon beunruhigt von der Ahnung einer heraufkommenden neuen Ausbeutung oder gar Verknechtung des siegreichen Proletariats durch seine eigene etablierte Bürokratie, wenn er im Prinzip Hoffnung einmal sagt: »Normal, denkt man, ist es doch, oder müßte es sein, daß sich Millionen Menschen nicht durch Jahrtausende von einer Handvoll Oberschicht beherrschen, ausbeuten, enterben lassen. Normal ist, daß eine so ungeheuere Mehrheit es sich nicht gefallen läßt, Verdammte dieser Erde zu sein. Statt dessen ist gerade das Erwachen dieser Mehrheit das ganz und gar Ungewöhnliche, das Seltene in der Geschichte. Auf tausend Kriege kommen nicht zehn Revolutionen; so schwer ist der aufrechte Gang. Und selbst wo sie gelungen waren, zeigten sich in der Regel die Bedrücker mehr ausgewechselt als abgeschafft.«
Gegenüber solchem, nach unseren späteren geschichtlichen Erfahrungen auch der proletarischen Revolution drohenden Rückfall in neue »Bedrückung«: Ausbeutung oder gar Verknechtung des Einzelnen durch die Gesellschaft selbst, geht Bloch auch für den Politischen Sozialismus auf die ursprüngliche Fragestellung Rousseaus zurück, aus der einst die politische Demokratie der Französischen Revolution entsprang, die lautet: »Wie kann ein Staat geschaffen werden, worin es keinen einzigen Unfreien mehr gibt, worin der Einzelne in der Gemeinschaft nicht das geringste vom Urrecht seiner Freiheit opfert.«
Die Antwort auf diese revolutionäre Frage ist die Erklärung der Menschenrechte, mit der die Französische Revolution das gedankliche Erbe der bürgerlichen Aufklärung und ihres linken Naturrechts antritt. Dieses Erbe des Naturrechts und der Demokratie in den von Diktatur bedrohten, in einem vulgärmaterialistischen Dogmatismus erstarrten Sozialismus einzubringen, war noch die Zielsetzung von Ernst Blochs letzter in der DDR verfaßten Schrift mit dem programmatischen Titel: »Naturrecht und menschliche Würde«.
Was sich hier zuletzt, in der Sache bereits in den »Frühen kritischen Aufsätzen« ein halbes Jahrhundert zuvor angelegt, als Überschritt eines in sich folgerichtigen Denkens über alle Grenzen im orthodoxen Marxismus hinaus ereignet hat, ist, im Gegensatz zu dem heute auch von Seiten der Theologie längst aufgenommenen christlich-atheistischen Dialog mit Ernst Bloch, noch kaum in seiner Bedeutung wahrgenommen. Es fordert einen neuen politisch-juristischen Dialog zwischen Demokraten und Sozialisten, Hier wie Dort, im vollen Gewicht und Ausmaß dieser Worte. Er könnte den Boden bereiten für eine ideologische Koexistenz über politische Fronten hinweg, über weltanschauliche Grenzen hinaus, an denen heute nicht nur das Reden miteinander, sondern bereits das Denken übereinander aufhört.
Bloch macht damit erstmals in unserer Zeit vollen Ernst mit dem bis heute fast verschwiegenen Wort des Marx der Pariser Manuskripte, der für seine Zeit vor einem Jahrhundert (1844) sagt: »Der Kommunismus ist die Gestalt und das energische Prinzip der nächsten Zukunft, aber der Kommunismus ist nicht als solcher das Ziel der menschlichen Entwicklung.« Was aber dann? Marx: »die Gestalt der menschlichen Gesellschaft«.
Was heißt das, aus den Erfahrungen unserer Vergangenheit und Gegenwart, ein Jahrhundert danach, auf unsere Zukunft hin gefragt: »menschliche Gesellschaft«, als eine im vollen Sinne ebenso menschenwürdige wie lebenswerte Gesellschaft; Hören wir dazu Blochs Antwort: seine über alle Halbwahrheiten Hier wie Dort hinausdringende, erst in einer neuen »Einheit der Gegensätze« zu findende ganze Wahrheit, über die Sache der Demokratie wie des Sozialismus:
»Die Sozialutopie ging auf menschliches Glück, das Naturrecht auf menschliche Würde. Die Sozialutopie malte Verhältnisse voraus, in denen die Mühseligen und Beladenen aufhören; das Naturrecht konstruierte Verhältnisse, in denen die Erniedrigten und Beleidigten aufhören.«
Mehr als je ist es darum für Bloch an der Zeit: »Die Unterschiede in den sozial-utopischen und den naturrechtlichen Intentionsfeldern funktionell endlich verbunden zu sehen und praktisch aufgehoben ... Beide gehören zur edlen Macht der Antizipation eines Besseren, als es das bisher Gewordene ist, - hier aus bunterem, dort aus härterem Versuchsstoff ihres Humanum, aus dem Reich der Hoffnung aber beide. Das naturrechtliche Anliegen war und ist das Aufrechte als Recht, so daß es an den Personen geehrt, in ihrem Kollektiv gesichert werde«.
Denn: »Es gibt keine menschliche Würde ohne Ende der Not, aber auch kein menschgemäßes Glück ohne Ende alter oder neuer Untertänigkeit.« Eine Einsicht, die Ernst Bloch in das Prinzip einer neuen künftigen Gesellschaftsordnung und Staatsverfassung der klassenlosen weltbürgerlichen Gesellschaft faßt: »Keine Demokratie ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Demokratie, das ist die Formel einer Wechselwirkung, die über die Zukunft entscheidet.«
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels ehrt mit der Verleihung seines diesjährigen Preises den freien Geist eines großen Mannes und sein Werk für den Frieden in unserer künftigen Welt. Er ehrt sich damit selbst und unsere freie und offene Gesellschaft. Vielen ein Zeichen. Es geht wieder Hoffnung um in unserem Lande.
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Werner Maihofer
Laudatio
Denn Wahrheit, dies ernsteste Wort, ist mit dem Vorhandenen nicht erschöpft. Tausend Jahre Unrecht machen keine Stunde Recht, tausendfach reproduzierter Krieg entwertet nicht, was ihn endlich aufheben will und könnte.
Ernst Bloch - Dankesrede (Manuskriptversion)
Ernst Bloch
Widerstand und Friede
Dankesrede (Manuskriptversion)
Bücher haben ihre Schicksale. Zuweilen auch gute, wenn ihr Autor den rechten Verleger, eine freundlich-helle Universität, heliotrop seinwollende Leser und ebensolche Berater ihrer gefunden hat. Mein besonderer Dank gilt dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels für den markanten Preis. Gleichfalls bewegt danke ich Sprechern, Begrüßern, Begründern am heutigen Vormittag, zu dieser Gelegenheit. Und zentral Herrn Maihofer, nicht nur wegen des seltenen Falls, daß ein Strafrechtler coram publico eine laudatio hält, sondern vor allem deshalb, weil der Rechtsphilosoph eines meiner dahingehenden Bücher so betroffen wie einladend beleuchtet hat. Kollege Maihofer wies hierbei auch auf die noch überwiegende Resonanz bei den Theologen hin: was könnte in der Sache erwünschter sein, wenn ein Philosophieren, das sich die Analyse der Träume nach vorwärts, zu einem besseren Leben vorgenommen hat, das das Noch-Nicht-Bewußte, Noch-Nicht-Gewordene, das Neue, objektiv-real Mögliche, kurz das riesige utopische Vorkommen in der Welt zum Thema hat, - wenn also der Blick und die versuchten Blicke solchen Philosophierens auch Anthropologie, Soziologie, Ästhetik, Frontprobleme der Moral und so manches mehr bis hin zu Finalproblemen in der Kosmologie angingen? Ist doch die ganze Welt selber ein Experiment.
Wir lernen nicht für die Schule und Wissenschaft, sondern sie fürs Leben, und das heißt heute: Überleben. So nun ein Wort zu diesem nahen Thema, in doppeltem Sinn dem des Tags:
Widerstand und Friede
1
Nur sanft sein heißt noch nicht gut sein. Und die vielen Schwächlinge, die wir haben, sind noch nicht friedlich. Sie sind es nur im billigen, schlechten Sinn dieses Wortes, sind es allzu leicht. Ja, als kleine Kinder ließen sie sich nichts gefallen, diese begehren auf, daß man wunder meint, was es derart mit uns auf sich habe. Aber danach kamen auf zehn Aufstände tausend Kriege, und die Opfer blieben brav. Daneben überall die vielen Duckmäuser, sagen nicht so und nicht so, damit es nachher nicht heißt, sie hätten so oder so gesagt. Leicht gibt sich bereits als friedlich, was mehr feig und verkrochen ist.
2
So hat man jedenfalls nicht gewettet, wenn man auf ruhige Luft setzt. Ja, auch was lange und duckmäuserisch beim Ofen sitzt, konnte und kann zu den Hunden gehören, die besonders leicht hinter dem Ofen hervorzulocken sind. Der verdrückte Kleinbürger hat gezeigt, in seinem Ernstfall, wie pazifistisch er sein kann. Und auch vorher, selbst außerhalb dessen gibt es einen schmierigen Frieden, nicht nur einen schmutzigen Krieg. Ebensowenig, selbstredend, stimmte es bei der anderen, der jeweils herrschenden Seite, wenn sie sich als ruhesam, diesesfalls als rein defensiv ausgab. So auch als Polizei liebend gern ein Freund des Publikums, selber ohne Tadel, ein guter Vater des reibungslosen Verkehrs. Um so ausschließlich die nicht so rechten, also linken Leute, die auf dieser Seite sich auflehnenden als gewalttätig auszugeben. Nur sie begehen dann Landfriedensbruch, sozusagen primär, erscheinen allein als gewalttätig. Gleich wie wenn auch in ruhigen Zeiten, wenn der Knüppel noch unbewegt im verdeckenden Sack bleibt, das Vater-Ich eine Bergpredigt wäre. Ungewalttätig durchaus, es sei denn, Gewalt werde ihm geradezu aufgezwungen, eine bloße Repression gegen die allein angreifende Opposition. Doch hat bereits Thomas Münzer gesagt, als er das Gewaltrecht des Guten verteidigte: »Unsere Herren machen es selber, daß der gemeine Mann ihnen feind wird« und wies auf die Wechsler im Tempel hin oder was ihnen hernach von berufener Stelle geschah. Allerdings: »Leid, Leid, Kreuz, Kreuz ist des Christen Teil«, hatte Luther dagegen gesagt, er bezog das aber, als ob sie keine Christen wären, durchaus nicht auf die Fürsten und Herren von damals. Denen sei ja eben zur puren Repression des »Herrn Omnes« das Schwert von obenher gegeben: für die Mühseligen und Beladenen, die Erniedrigten und Beleidigten blieb dann nur noch, als fehlte ihnen beides, die »Geduld des Kreuzes«. Indes, es erhellt: wie friedlicher Wandel ein anderes als der von Filzpantoffeln ist oder auf ihnen, so ist umgekehrt Kampf fürs Gute nicht von der gleichen Art Gewalt wie die des Kriegs und seiner Herrschaft. Als häufiges Gemisch von Limonade und Phrase wäre Pazifismus nicht das, was er für viele Demokraten zu sein hat: Widerstand der sozial-humanen Vernunft, aktiv, ohne Ausrede.
3
Um dazu nicht entmannt zu sein, muß zwischen Kampf und Krieg dringend unterschieden werden. Ersterer ist als sozialer auf absehbare Zeit nolens volens geburtshelferisch, will mit fälliger Frucht an den Tag. Er reicht vom Streik bis zu Umwälzungen, von denen die folgenreichste die bürgerliche war, die antifeudale Befreiung. Ihr Kampf war freilich weder in der englischen noch amerikanischen noch französischen Revolution ein abstrakter Putsch noch eine Fetischierung des Kampfs selber, die dann permanente Revolution hieße. Nicht so, sondern mittels seiner, durch ihn hindurch soll ja seine Frucht gerade als Ende, als Gewinn des Kampf-Widerstandes, hergestellt werden, das ist als sozialer Friede. Vor allem der russische Revolutionskampf war nirgends erobernd wie ein Krieg, sondern eben nur geburtshelferisch für jene nicht mehr antagonistische Gesellschaft abgezielt, womit die alte schwanger ist.
Auch in den heroischen Illusionen der französischen Revolution sollte der Kampf ja den klassenlosen Citoyen mit seinem Palmenzweig freilegen. »Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige / Stehst du in des Jahrhunderts Neige, / In edler stolzer Männlichkeit«; es war 1788/89 gerade die in den ersten Wehen des Bastille-Sturms gesehene Eirene, die Schiller so idealisch besang. Daß danach, bei nicht-gelungener Aufhebung vom Herr-Knecht-Verhältnis (nach der Formel Diderots) das brüderlich Citoyenhafte Illusion bleiben mußte, macht sie zu keiner unaufhebbaren. Intendiert war im sozialen Kampf jedenfalls Herstellung eines möglichen zwischenmenschlichen Friedens, nach Ende Nimrods, wie Münzer sagte. Also das Gegenteil des Kirchhoffriedens, worin fürs Volk die meisten Kriege endeten, und nicht bloß für die Gefallenen.
4
Sehr früh wurde diese menschenfreundliche Art des Kampfs gefeiert, fordernd bis heute. Auch sie ist ehrwürdig, nicht nur Nimrod, der die Menschen »zuerst mit Mein und Dein übermocht«, der starke Jäger, hat seine Tradition. Die starke andere beginnt beim ältesten biblischen Propheten, bei Amos um 800 v. Chr. sogleich mit Feuer und Regenbogen. »Darum (Amos 2, 6; 5, 24), daß sie die Gerechten um Geld und die Armen um ein Paar Schuhe verkaufen ... Es soll aber das Recht offenbart werden und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom.« Auch Jesaja hält es in diesen beiden Punkten nicht viel anders, wie denn fast alle Propheten, um keines Kirchhoffriedens willen, gegen die Ahabs und lsabels aufgestanden sind. Das sind alte Geschichten, samt den Schwertern, die zu Pflugscharen, den Lanzen, die zu Sicheln werden, »und wird«, sagt Jesaja 2, 4, »kein Volk wider das andere ein Schwert aufheben und werden hinfort nicht mehr Krieg lernen«. Alte Geschichten, aber zu einem Leben hin, »wo die Tyrannen ein Ende haben und der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein, wo niemand schreckt«. Alte Geschichten gewiß, doch die Verhältnisse sind nicht so, daß dergleichen nicht als fast völlig unabgegolten aus der Zukunft her, aus einem Kampf um die Zukunft heftig postuliert. Ersichtlich bleibt hier ein sehr früher riesiger Resonanzboden, auch für verhinderte Marxleser, ein Plus für den Kampf um echten sozialen Frieden aus Aufklärung. Vor allem aber wirkt das aufreizende Jesuswort darin: »Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer entzünde auf Erden, was wollte ich lieber, es brennte schon« (Luk, 12, 49), ein Kampffeuer für die Mühseligen und Beladenen, ohne Frieden »mit Belial und seinem Reich«. Hat den wenig profithaften Ruf in sich: »Was ihr dem geringsten meiner Brüder tut, habt ihr mir getan«; reeller Kampf für den Frieden, ist ebenso unverwechselbar, in seinem ganz unwölfischen, einzig moralischen Widerstandsrecht, vom Krieg toto coelo verschieden. Auch vom Defensivkrieg, praktisch schon deshalb, weil mindestens zwischen den hochgerüsteten Großstaaten keiner zu den Frömmsten gehört, die nicht in Frieden leben können, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Und wenn eine Kirche bisher auf beiden Großseiten die Waffen gesegnet hat, auch die der Nazis, also echtesten Krieges, so war es von da zu den Pforten der Hölle schließlich nicht weit. Einleuchtend weit aber vom Kampf dagegen; als welcher eben in Gesellschaften, die sich seit dem alten Amos nicht so grundlegend geändert haben, die Befreiung aus Krieg und Furcht nicht von jenen Mächten erwartet, die diese Furcht erst erzeugt haben und erzeugen. Auch das, erst recht das ist dann ein Wort zum Sonntag, an dem die Herren unserer Welt, von den Kreuzigungen bis Auschwitz, den Autodafés bis Vietnam, ja durchaus nicht ruhen.
5
Die neuerdings bittersten Sätze wider den Krieg hat Kant geschrieben, erfolglos wie gleichfalls bekannt. Desto richtender, fordernder, stehen sie vor uns, in einer noch dickeren Luft, nun über die ganze Erde gespannt. Wobei erst recht der Unterschied, der vielleicht doch rettende, zwischen Kampf, nämlich einem der freizügigsten damals, und den Machtkriegen durchgreift. So wenn der unbedingte Antibellist Kant so ganz andere Wort und Weisen über das damalige französische Ereignis findet als über jeden Krieg, ausnahmslos. Im »Streit der Fakultäten« sagt Kant über sein Preußen und was damit nicht nur feudal zusammenhängt: »Denn für die Allgewalt der Natur oder vielmehr ihrer uns unerreichbaren obersten Ursache ist der Mensch nur eine Kleinigkeit. Daß ihn aber auch die Herrscher von seiner eigenen Gattung dafür nehmen und als eine solche behandeln, indem sie ihn teils tierisch, als bloßes Werkzeug ihrer Absichten belasten, teils in ihren Streitigkeiten gegeneinander aufstellen, um sie schlachten zu lassen - das ist keine Kleinigkeit, sondern Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst.« Die gleiche Schrift aber sagt über das Gewaltrecht des Guten in der französischen Revolution folgende, an dem radikalen Pazifisten Kant nicht weniger unvergeßliche Sätze, noch 1798: »Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie, zum zweiten Male unternehmend, glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde - diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.« Die Differenz zur Beurteilung der Machtkriege liegt auf der Hand, und die sogenannten Befreiungskriege? - gegen deren Früchte wurde 1848 genau in der Paulskirche abzurechnen versucht. Wohl aber gibt es eine Verbindung des kategorischen Imperativs mit der Erstürmung der Bastille; beim gleichen Kant, der das Gewalttätige am Krieg durchaus nicht als bloßen Schönheitsfehler beurteilte und dieses selber am wenigsten aus moralischer Anlage hervorkommen ließ. Vielmehr ist bereits im Titel Kants Entwurf »Zum ewigen Frieden« auf eine internationale Kodifizierung von Nicht-Krieg gerichtet, worin auch bei weniger moralischer Anlage der Herrschenden die Politik keinen Schritt tun könnte, ohne zuvor der Moral gehuldigt zu haben. Das war rebus sic stantibus eine noch abstrakte Utopie (trotz wie wegen des erstmaligen Vorschlags eines Völkerbunds in dieser Schrift); es fehlt noch die ökonomische Analyse des Kriegtreibenden. Doch dafür fehlt die andere Denunzierung, auch Adresse nicht, nämlich die mit Ökonomischem nicht ganz erschöpfte Macht. Fast als ein vor, gar in dem Kriegsfall Regierendes an-sich, ob mit oder auch ohne namentlichen Thron. Derart befindet der Entwurf »Zum ewigen Frieden«, um seinetwillen: »Daß Könige philosophieren oder Philosophen Könige werden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen; weil der Besitz von Macht das freie Urteil von Vernunft unvermeidlich verdirbt.« Noch über den Krieg (der ultima ratio regis) hinaus wird hier von Gewalt als einem persönlichen oder auch amtlichen Besitz gesprochen, einem sich weiterhin einer ganzen eigenen Schicht von Hofschranzen oder von Bürokratie mitteilenden, welcher bei sich selber das freie Urteil der Vernunft verdirbt, am erwünschten Hammelvolk darunter autoritär hindert. An dieser Stelle besonders läßt Kant die rein ökonomischen Kriegsursachen aus, doch diesenfalls mit einem gerade heute bemerkenswerten Gewinn: er denunziert noch einen anderen Faktor, den verdinglichter Herrschaft als solcher. Zweifellos, ohne die miteinander streitenden Profitinteressen hätte es mindestens keine Initialzündung zu modernen Kriegen gegeben. Auch setzten sich mindestens in der Neuzeit, trotz des ideologischen Gewäsches, Kriegsziele von eindeutig ökonomisch schluckender Art. Trotzdem trifft die Kantische Denunzierung des Gewalt-Besitzes, als eines gegebenenfalls auch ökonomisch unsinnigen oder unsinnig werdenden Faktors, jenes erzbellikose Motiv, das zum ökonomischen hinzukommt, es sogar institutionell überholen kann. So unvernunfthaft, daß dann verbissen kriegführende Macht dessen, was sich als Militarismus verselbständigt hat, Ökonomisches eher als Ideologie denn als Unterbau in sich haben mag. Paradox genug, wie die Macht schmeckt, wie sie unvernünftig, also doppelt gefährlich werden kann; indes Marx hätte gerade heutzutage die Kantische Warnung kaum übersehen. Um des Friedens willen, der nicht aus purem Profittrieb, sondern aus der daraus entspringenden reinen Machthaberei beschädigt ist. Wozu uns im ersten und zweiten Weltkrieg Deutschlands, dann im so viel kleineren, doch konzentriert entsetzlichen Amoklauf Vietnam ein genügend absurdes Exempel anblickt. Verdinglichte Macht, gar mit dem bekannten Druck auf den Knopf, verdient mehr als je die Bitterkeit, womit Kant über einen Hauptfaktor geschrieben, der die Vernunft verdirbt, noch über den bloßen Geschäften des Herrn Julius Caesar.
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Um auf vielfach anderes zu kommen, hat Kant auch an einer lange unerwarteten Stelle nicht recht? Einen inneren, keinen äußeren Krieg angehend, erbarmungslos Feinde erfindend, brauchend; das nicht nur durch einen Alleinherrscher, wie er immer um seiner selbst willen da ist. Sondern auch die Macht besonderer Bürokratie gehört dazu, der Apparatschik als anders herrschenden Klasse, eigens verdinglicht. Keine Rede sei freilich davon, daß Diktatur des Proletariats selber zu einer solchen übers Proletariat hinführe, nachdem das Verhältnis Knecht - privater Herr aufgehoben. Jedoch eine Selbsterhaltung von Macht an sich läßt leicht auch bei Sozialisierung, gar Nationalisierung der Betriebe, ja durchaus mit ihr, den Machtstaat sich erhalten, der am besten die sozialistische Vernunft verdirbt. Ist sie doch die geplante Vernunft zum wirklich zwischenmenschlichen Frieden, zu nur noch nicht-antagonistischen Widersprüchen, als dem wirklichen Salz des Lebens. Wonach auch, bei ermöglichtem Ende der Klassen, der Herrschaft Menschen über Menschen, gerade das militante Zentrum der Oppression überflüssig zu werden hätte. Oder wie die sozialistische Vernunft ohne Apparatschiks sagte: »Der Staat stirbt ab, er verwandelt sich aus einer Regierung über Personen in eine Verwaltung von Sachen und Produktionsprozessen.« Das stärkste Machtgift dagegen ist und bleibt aber, nach so vielen Jahren, ersichtlich eine auf ihren Stühlen fast für sich etablierte Befehlsgewalt. Dergleichen involviert zwar keinerlei Krieg, wie er die Westtradition der herrschenden Macht begleitet, wohl aber das selbstzweckhaft Gewordene eines verdinglichten Belagerungszustands, kurz jenes Autoritäre, das als solches genau der linken Jugend in der Welt unerträglich geworden ist. Den künftig möglichen Trägern des sozialistischen Friedens also, doch mit Individuum als keiner Strafsache und mit jener wirklichen Solidarität, die nicht nur die Mühseligen und Beladenen zu stillen hätte, sondern im gleichen Zug des endlich aufrechten Gangs die Erniedrigten und Beleidigten zu emanzipieren. »Aufklärung«, sagte Kant unabgegolten, »ist Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit«; erst dann werde der befreite Mensch, mit der Gesellschaft, des Friedens voll. Womit hörbar zwar noch nicht die ökonomische, wohl aber die mindestens so aktuelle innenpolitische Abhängigkeit getroffen ist; die im Westen keineswegs liberalisierte, im Osten vorerst noch exaggerierte. Wobei genau der junge Marx, in seiner »Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, die eigentlichen Kriegsopfer der Unterdrückung, ja Hierarchie, mit einem gleichsam konkreten Kant ansprach - die Lage der arbeitenden Klasse, aber auch Metternich und den Zarismus meinend. Mit dem von Marx selber so genannten kategorischen Imperativ contra Gewalt: »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes Wesen ist«. Da ist keinerlei balsamisch geblasener Trompetenton für einen ewigen Frieden mit nichts als Palmenzweigen schon unterwegs. Doch wird selbst die Religion, deren Kritik dem neuen kategorischen Imperativ hier vorhergeht, nicht nur balsamisch gefaßt, als »Opium des Volks«, sondern ebenso, cum grano Münzerischer Erinnerung, als »Ausdruck des wirklichen Elends«, ja zum Teil als »Protestation gegen das wirkliche Elend«. Sie selber gab sich nicht überall nur als Friede mit dieser Welt, mit imaginärem Heiligenschein um ihr Jammertal. Statt Ketzergeschichte, Sprengung, Vermenschlichung, kein Jammertal lassend, aber auch kein Diesseits als bloße kalte Schulter oder bloß Druck und Stoß. Wonach erst recht der kategorische Imperativ des jungen Marx, um des wirklichen Friedens willen, sein Diesseits nicht als bloße Kahlheit hat: »Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.« Die erbitterten Sätze Kants, mit denen er den Frieden nicht imaginär, sondern so erreichbar wie moralgemäß fassen wollte, gehen dergestalt in unerniedrigter Vernunft weiter. Noch als Utopikum, gewiß - im Hinblick auf Negroes, Vietnam, Sibirien -, es gibt aber, bei Strafe unseres Untergangs, kein fällig interessanteres. Ist es schon zu lange verdammt, ein Fernziel zu sein, so bleibt keines auch evidenter als: Friede auf Erden statt bloßer Friedensschlüsse (eigentlich Waffenstillstände), und endlich ein Wohlgefallen.
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Nur, trotz allem, es geht kein Tanz vor dem Essen. Den nächsten Schritt zu besorgen, darauf kommt es zuerst und ursächlich an. So sind die damit bedeuteten Nahziele friedensfördernder Art, bis zur gemeinsamen Freiheit vom Erwerb statt des Erwerbs, nicht überschlagbar. Am wenigsten um dadurch scheinbar schneller ans Ziel zu kommen, an eine Gesellschaft, wo nicht mehr homo homini lupus zu sein hätte. Gewiß haben nicht nur die schlechten Verhältnisse »den« Menschen »verdorben«, so daß deren Veränderung allein schon reichte. Doch der bekannte Aggressionstrieb, vom individuellen bis zum Kriegsverbrechen tauglich, kann beschäftigungsloser werden, sobald er sich nicht auch lohnt. Sobald die sozialen Anreize zu ihm, die sozialen Prämien und Karrieren durch ihn rein institutionell außer Betrieb sind. Wonach etwa kraft eines ausreichend produzierten gesellschaftlichen Reichtums für alle (was technisch jetzt schon angehen könnte) eine Ausnutzung des Nächsten nicht mehr nützlich wäre. Weshalb auch eine neue Machtklasse auf einem politisch immer leereren, auch anachronistischer werdenden Feld verbliebe. Sozialismus im Westen, Demokratie im Osten machten wohl jede offene wie schlecht versteckte Kommandogewalt über unseren, gar gegen unsere Köpfe so wenig aktuell wie es Reichsäpfel und Erbfolgekriege sind. Zweifellos, die Kategorie Fortschritt steht heute schlecht im Kurs, und sie hat sich ebenso oft blamiert wie sie billig und banal sein konnte. Aber deren selber billige oder umgekehrt Sisyphus bemühende Ablehnung zeigt wie oft nur an, daß kein Engagement für Nahziele wirkte. Oder daß man die Geschichte besonders deshalb als bloßen statischen Dreckhaufen anzusehen beliebte, weil man selber unfähig war, an Nahzielen Geschichte zu machen. Als Vermittlung gerade der Fernziele, wie sie am wenigsten vergessen sein dürfen, denen genau aber das Fortschrittsdenken, als das durch Nahziele vermittelte Prozeßdenken, Treue hält. Eine Treue, zu der eben auch jener Kantsatz zuständig ist, wonach die Stelle, welche wir in der künftigen, sei es intelligiblen, sei es noch transzendenten Welt einnehmen, sehr wohl durch die Art bestimmt ist, wie wir unseren hiesigen Posten ausgefüllt haben. Und andererseits bewirkt die Besorgung der Nahziele im Fortschritt, also als relative Zwecke in sich selbst, daß nicht die jeweils lebende Generation - »analog« dem Einsatz für ein kommandiertes »Kriegsziel« - für Fernziele ganz jenseits ihres kurzen Lebens verheizt werden kann. Deshalb aber müssen auch in jedem Nahziel die Fernziele mehr als nur implicite anwesend sein, nämlich über ihre bloße conditio sine qua non hinaus als partizipierbar Vorscheinen. Ja, wenn das fälligste Fernziel, also das Utopikum einer Ermöglichung von Platz für realen Humanismus, wenn dieses gesellschaftliche Fernziel nicht den jeweiligen Nahzielen des gesellschaftlichen Fortschritts im Visier ist, dann hört das Nahziel auf, eine Stufe zum Ziel zu bleiben, es wird opportunistisch schwankendes Rohr. Immer wieder hat gerade der Friede, radikal wie kostbar genug gefaßt, das Eigentümliche, daß er beides, Nahziel wie Fernziel in sich benachbart haben muß. Deshalb ist in ihm zwar jede mörderische Spannung gesetzlich abgeschafft, doch der Friede ist keineswegs ohne neue Spannung, wenn die bisherigen, die bloß antagonistischen Widersprüche in ihm aufgehoben sind. Friede ist deshalb auch keineswegs, wie bloßer Nicht-Krieg, die Ruhe als mögliche Schalheit, vielmehr: die Ruhe - dieses tiefste Fernziel im Frieden selber - wird dann erst das Problem des vollen Beisichseins. Erscheint als das Problem der noch völlig utopischen Gegenwelt zur Ruhe des Todes und doch als immer neu versuchtes Lösewort zu echter, gerade uns selber enthaltender Stille. Friede in solch höchster Anti-Schalheit hat derart, in seiner eigentümlichen Transparenz von Nahziel und Fernziel, sogar die am meisten metaphysische Bezeichnung des höchsten Guts gefunden; folgerichtig gehört Dona nobis pacem nicht zuletzt hierher. So vieles also hat das Fest des Friedens schon bedeutet, indes es noch kaum je das Fest eines Kriegsbeginns gab. Inter arma silent musae, das heißt, die Kriege mögen bisweilen Lokomotiven der Weltgeschichte sein, aber nur die Werke des Friedens zählen in der Kultur. Desto eigener wirkt seine schwere Geburt mitsamt der Karikatur des Kirchhoffriedens, bis hin zum generellen Atomtod als besonders gründlichem Gestilltsein - corruptio optimi pessima, auch hier. Dabei gilt doch das so wenig satanisch wesende Fernziel Friede ebenso in allen Sozialutopien wie gar »Über allen Gipfeln ist Ruh« im Gedicht aller höheren Religionen, erst recht aller Tiefe.
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Was erst heraufkommt, ist selten schon voll bedingt, gar ausgemacht. Seine Ferne ist noch geschehend, also zeitlich, nicht räumlich, liegt in der Zukunft. Der Inhalt des so Fernen ist sowohl als ein uns guter wie aber auch als ein uns vernichtender noch im Schwange, unausgetragen, unfertig; er kann jedoch, wenn es reifer darin zugeht, in etwas vorbemerkt werden. Als befürchtet Übles, daher tunlichst mit uns zu Verhinderndes, als erhofft Gutes, daher mit uns tunlichst zu Beförderndes. Hoffnung, vor allem Dialektik der Hoffnung hat zum Unterschied vom negativ Kapitulierenden das Stolze und vielsagend Unentsagende, daß sie bekanntlich auch am Grab noch aufgepflanzt werden kann, ja daß sich sogar wider die Hoffnung hoffen läßt. So leicht und wertlos kann sie aber als bloßes wishful thinking auch sein, daß der Satz dann stimmt: Hoffen und Harren macht manchen zum Narren. Denn begriffen vielsagend wird die Hoffnung erst als geprüfte, unabstrakte, dem objektiv-real Möglichen vermittelte. Dergestalt, daß danach gerade auch der Satz stimmt: Eine Landkarte, worauf das Land Utopia fehlt, verdient nicht einmal einen Blick. Am wenigsten wieder hat Kant das verleugnet; sondern in den »Träumen eines Geistersehers« findet sich, wenn auch bei Gelegenheit eines mehr jenseitig metaphysischen Knotens, als unschätzbarer, nun nicht mehr zu übersehender Text: »Ich finde nicht, daß irgendeine Anhänglichkeit oder sonst eine vor der Prüfung eingeschlichene Neigung meinem Gemüte die Lenksamkeit nach allerlei Gründen für oder wider benehme, eine einzige ausgenommen. Die Verstandeswaage ist doch nicht ganz unparteiisch, und ein Arm derselben, welcher die Aufschrift führt: Hoffnung der Zukunft (bei Kant gesperrt), hat einen mechanischen Vorteil, welcher macht, daß auch leichte Gründe, welche in die ihm angehörige Schale fallen, die Spekulationen von an sich größerem Gewichte auf der anderen Seite in die Höhe ziehen. Dieses ist die einzige Unrichtigkeit, die ich nicht wohl heben kann und die ich in der Tat auch niemals heben will.« Ein Bekenntnis Kants, mit dem ironisch gebrauchten Wort »Unrichtigkeit«, wobei aber solch bloßer Kantianismus uns hier so wenig angeht, daß der große Satz auch außerhalb Kantianischer Begründung wahr ist, ja den nicht »mechanischen Vorteil« hat, immer wahrer zu werden. Das genau heute bei der schweren Geburt, worin das Licht steht, bei falschem Frieden mit einer Welt bloßer Vorhandenheit; die Weichen müssen neu gestellt werden, die Kraft zur Hoffnung erforscht, so daß die »leichten Gründe«, welche nach der großen Intuition Kants »Spekulationen von an sich größerem Gewichte« zugunsten der Hoffnung in die Höhe ziehen, zweifach sehr viel schwerer werden. Indem das Engagement der Hoffnung erstens nicht mehr abstrakt an den Gang der Ereignisse herangebracht wird, und zweitens die Wissenschaft von der Welt dieser Ereignisse nicht mehr auf einen mechanistischen Sektor beschränkt wird, worin nichts Neues geschieht. Sondern wo die »Anlage zur besseren Zukunft«, als das in ihr noch Ungeschehene, die bloße Abgeschlossenheit einer Fakt- und Mechanismuswelt auch konstitutiv »ergänzt«, ja prozeßhaft-dialektisch sprengt. Dann also kann gerade auch die »Unrichtigkeit« von Hoffnung sich umkehren, indem nun die bloße Faktwelt als unrichtig geworden, ja als unwahr erkennbar wird. Ohne appeasement damit, doch voll Allianz mit allem möglicherweise Heilenden, Heilsamen, wie es keinesfalls geworden, doch ebenso noch nicht vereitelt ist. Unzufriedensein, nicht Zufriedenheit, leicht einzuwickelnde, mißt auch der Hoffnung Frieden ihren wahren Rang in dieser Welt.
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Denn Wahrheit, dies ernsteste Wort, ist mit dem Vorhandenen nicht erschöpft. Tausend Jahre Unrecht machen keine Stunde Recht, tausendfach reproduzierter Krieg entwertet nicht, was ihn endlich aufheben will und könnte.
Gewiß, dasjenige was der Fall ist, dies durch Beobachtung übermittelt Gegebene muß in der Forschung immer wieder verhört werden. Doch sobald sich ein Wissen nicht nur kontemplativ verhält, vor stillgelegtem Gegenüber, geht am Gegebenen, dem mit bezeichnender Vergangenheitsform Faktum genannten, sein unterschlagenes Werden, unabgeschlossenes Fieri auf. Tatsachen geben sich dann als angehaltene Prozeßmomente, und selbst an ihnen als Produkt ist das Produzierende nicht zu vergessen, mit Prozeßhorizont aus noch unverwirklichter Möglichkeit. Das am deutlichsten und dringendsten in der sozial-kulturellen Welt, der von Menschen und ihrem abzielenden Willen hergestellten, sich selber werthaft kritisierenden. Daß Weltgeschichte Weltgericht sei und nicht nur eine Galerie schön vollbrachter Werke, hat von hier aus seinen Sinn, seinen unfaktischen, also kritisch-utopischen, wirklich gewissenhaften Sinn. »Desto schlimmer für die Tatsachen«, das war derart ohne alle »Unrichtigkeit« sagbar, und demgemäß konnte gehandelt, nämlich verändert werden. Sowohl konstitutiv besserwissend wie real geburtshelferisch zu fällig Neuem hin, woran nun erst, mit Theorie-Praxis, »verifiziert« wurde. Ohne Respekt vor dem als tausend Jahre Unrecht erscheinenden Feudalrecht kritisierte so bürgerlich-revolutionäres Naturrecht von Grotius bis Rousseau dies feudal Gewordene, noch sehr faktische. Der reaktionäre Rechtspositivismus des neunzehnten Jahrhunderts hatte viel mehr, ja einzig Respekt vor den gewordenen Tatsachen: war er deshalb mehr Wissenschaft des Wahren oder nur mehr Apologie? Jede Theorie der Veränderung durch Besserwissen, auch wenn sie sich hütet, bloß Ideale verwirklichen zu wollen, hat aber, suo modo, den anderen, den kritischen, antizipierenden Wahrheitsbegriff in sich. Was am einleuchtendsten an humanen Maßstäben klar wird, wo ja, wenn - ebenfalls nüchtern, nämlich unbestechlich - nach dem »wahren Freund«, der »wahren Gemeinschaft«, dem »wahren Frieden« im Sinn der Echtheit gefragt wurde und wird - wenn das also nicht aus herumliegend, gar stockend Faktischem nur induziert, gar generalisiert worden ist.
Item, es gibt noch eine andere Wahrheitsschicht als die bloße kontemplative Anpassung des Gedankens an soziale Tatsachen, und dieser besseren Wahrheit wollen wir auch im Widerstand gegen alles imperiale Unrecht in der Welt gemäß sein, gemäß handeln. Die »Präliminar- und Definitivartikel zum Ewigen Frieden« treten so erst nach wahrheitsgemäßer Abschaffung all der hohen Verbrechen in Kraft, die so besonders faktisch sind. Die gegen den Willen fast der ganzen, hierin fast rätselhaft ohnmächtigen Menschheit das Blutvergießen (gar schwach und altmodisch ausgedrückt) als einziges am Leben halten. Daß aber auch der Friede ein anderes als Nicht-Krieg sei und werde, dazu gehört kausale wie erst recht finale Aufklärung ohne Unterlaß, eine solche also, die sich auch gar nicht davor scheut, in die so exakte wie weckende Phantasie zu greifen. Pax vobiscum, das ist bis jetzt nur ein Gruß, bestenfalls ein zwischenmenschliches Portal; wieviel wahrer wäre das als Haus. Und wenn die Verhältnisse die Menschen bilden, so hilft nichts als die Verhältnisse menschlich zu bilden; es lebe die praktische Vernunft.
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Ernst Bloch
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1967
+ + + Die Volkskammer der DDR verabschiedet im Februar 1967 das Gesetz über die Staatsangehörigkeit und proklamiert damit eine eigenständige Nation. + + + In der Nähe von Cornwall läuft im März der Supertanker »Torrey Canyon« auf ein Riff und verursacht die erste große Ölkatastrophe vor einer europäischen Küste. + + + Im April werden im früheren Salzbergwerk Asse zum ersten Mal in der Bundesrepublik radioaktive Abfälle gelagert. + + +
+ + + Altbundeskanzler Konrad Adenauer stirbt am 19. April im Alter von 91 Jahren. + + + Mit dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg, der am 2. Juni bei einer Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs von einem für – wie sich später herausstellt – die Stasi arbeitenden Polizisten erschossen wird, beginnt die Studentenrevolte. Sie richtet sich als außerparlamentarische Opposition (APO) mit Rudi Dutschke an der Spitze gegen die US-Intervention in Vietnam, gegen die geplanten Notstandsgesetze und tritt für eine basisdemokratische Reform des Hochschulwesens ein. + + + Israel schlägt im Juni in einem Sechs-Tage-Krieg seine arabischen Nachbarn und besetzt die Sinai-Halbinsel, Teile Jordaniens und Alt-Jerusalems. Die von der Arbeiterpartei geführte israelische Regierung vereinigt formell beide Teile Jerusalems. + + + Der Guerilla-Kämpfer Ernesto »Che« Guevara Serna stirbt am 9. Oktober bei einem Gefecht mit bolivianischen Regierungstruppen. + + + Im November 1967 werden erstmals die US-Verluste in Vietnam seit Ausbruch des Krieges 1961 bekannt: 15 058 Tote und 109 527 Verwundete. + + +
Biographie Ernst Bloch
Ernst Bloch, geboren am 8. Juli 1885 in Ludwigshafen am Rhein, studiert in München und Würzburg Philosophie. In den Jahren nach seiner Promotion schließt er Freundschaft mit Georg Lukács und verkehrt im Heidelberger Kreis um Max Weber.
Während des Ersten Weltkriegs, den Bloch als deutschen Eroberungskrieg empfindet, geht er von 1917 bis 1919 in die Schweiz. Dort erscheint 1918 sein Frühwerk Geist der Utopie. In den 1920er Jahren lebt Bloch als Autor in Berlin und pflegt regen Austausch mit Künstlern und Philosophen wie Theodor W. Adorno, Bertolt Brecht, Otto Klemperer und Kurt Weill. 1933 wird er ins Schweizer Exil gezwungen und lebt ab 1938 in den USA. Hier entsteht das Manuskript zu seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung.
Nach dem Krieg lehrt Bloch an der Leipziger Universität. Nach dem ungarischen Volksaufstand 1956 geht er auf kritische Distanz zum SED-Regime und verlässt, nach erzwungener Emeritierung, die DDR, um ab 1961 in Tübingen zu lehren. Bloch, der Begründer einer »neuen Metaphysik«, gilt als einer der geistigen Wegbereiter der Studentenbewegung in den späten 60er Jahren, doch ohne deren dogmatische Züge. Eine enge Freundschaft verbindet ihn mit Rudi Dutschke, den er als möglichen Nachfolger für die Entwicklung seiner gesellschaftspolitischen Ideen sieht.
Bis zuletzt tätig, stirbt Ernst Bloch am 4. August 1977 im Alter von 92 Jahren.
Auszeichnungen
1975 Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa
1975 Ehrendoktor der Sorbonne in Paris und der Universität Tübingen
1970 Ehrenbürgerschaft der Geburtsstadt Ludwigshafen
1967 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Bibliographie
Logos der Materie. Eine Logik im Werden. Aus dem Nachlass 1923–1949
Suhrkamp Verlag, 2000
Fabelnd Denken. Essayistische Texte aus der “Frankfurter Zeitung”
Klöpfer und Meyer, 1997
Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis,
Suhrkamp Verlag, 1975
Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz
Suhrkamp Verlag, 1972
Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz
Suhrkamp Verlag, 1970
Atheismus im Christentum
Suhrkamp Verlag, 1968
Tübinger Einleitung in die Philosophie
Suhrkamp Verlag, 1963
Naturrecht und menschliche Würde
1961
Widerstand und Friede. Aufsätze zur Politik
Suhrkamp Verlag, 1968
Das Prinzip Hoffnung
3 Bände, 1954–1959
Avicenna und die aristotelische Linke
(Leipzig 1949) Rütten & Loening, Berlin 1952.
Christian Thomasius
1949
Subjekt – Objekt
1949
Freiheit und Ordnung
Berlin, Aufbau-Verlag, 1947
Erbschaft dieser Zeit
Zürich, 1935
Spuren
Berlin, 1930
Geist der Utopie, endgültige Fassung
Paul Cassirer Verlag, Berlin 1923
Durch die Wüste – Kritische Essays
Paul Cassirer Verlag, Berlin 1923
Thomas Müntzer als Theologe der Revolution
München 1921
Geist der Utopie
München, 1918
Kritische Erörterungen über Heinrich Rickert und das Problem der Erkenntnistheorie
Dissertation, 1909