Paul Mikat
Auf die Preisträger 1966
Laudatio auf Augustin Kardinal Bea und Willem A. Visser 't Hooft
Im Jahre 1958 wurde der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels Karl Jaspers verliehen, und Hannah Arendt umriß damals an dieser Stelle in ihrer Festrede zu Ehren des Philosophen die Aufgabe einer laudatio mit den Worten: »In der laudatio muß in der Tat alles, wie die Römer - die in diesen Dingen erfahrener waren als wir - meinten, auf die Dignität der Person bezogen bleiben: in laudationibus ad personarum dignitatem omnia perferentur (Cicero, De Oratore I, 141), auf die Würde nämlich, die einem Menschen eigen ist, sofern er mehr ist als alles, was er schafft. Diese Würde zu erkennen und zu feiern ist nicht Sache der Fachkollegen und Experten; sie kann sich nur durch ein der Öffentlichkeit ausgesetztes Leben bewähren und beweisen, und die Preisung bestätigt nur das, was diese Öffentlichkeit längst weiß. Die laudatio kann also nur das auszusprechen versuchen, was Sie alle wissen. Darin liegt ein großer Sinn, weil das Gehörtwerden dem in der Verborgenheit der je Einzelnen Gewußten eine Leuchtkraft verleiht, die es als Erscheinung in der Wirklichkeit bestätigt.«
Auf die Dignität der Person bezogen bleiben: das bedeutet nun nicht ein chronologisch geordnetes Aufzählen bedeutender Lebensfakten des Gefeierten, eine strenge Treue gegenüber der Biographie, sondern bedingt die Verpflichtung, deutlich zu machen, was den geehrten Menschen in so prägender und unverwechselbarer Weise dem Bewußtsein der Öffentlichkeit und seiner Zeit vergegenwärtigt. In gewisser Hinsicht ist der Träger eines Preises, wie ihn hier der Deutsche Buchhandel verleiht, ja auch ein Repräsentant unserer Selbst, unserer eigenen Wünsche und Hoffnungen, unseres Zweifels wie unseres Glaubens.
In diesem Jahre steht dabei der, dem die ehrenvolle Aufgabe zugedacht wurde, die laudatio zu halten, vor einer besonderen Gegebenheit, insofern es nicht einen, sondern zwei Preisträger zu ehren gilt, den Kardinal Augustin Bea und den niederländischen Theologen Dr. Willem Visser't Hooft. Welche große geschichtliche - näherhin kirchengeschichtliche - Dimension verbindet sich doch mit diesen beiden Namen: der eine, Sohn des Ignatius von Loyola, der andere, Theologe der reformierten Kirche Calvins, der eine, Kurienkardinal der römischen Kirche, der andere, Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf. Beide sind Männer der Kirche, beide in besonderer Weise unter Gottes Wort gestellt, beide haben ihr Leben und Werk der Einheit der Christenheit gewidmet. Beide wissen auch um die Schmerzlichkeit der Trennung von Menschen, die dem Evangelium Christi verpflichtet sind und die doch in verschiedenen Glaubensgemeinschaften leben. Sie wissen um das Skandalon, das in der Gespaltenheit der Christen und der Kirchen liegt, und gerade in dieser Stunde, wo ihnen als den bedeutenden Anwälten des ökumenischen Gedankens der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wird, werden sie diese Trennung vielleicht schmerzlicher denn je empfinden.
Wiewohl also die laudatio auf die Dignität des jeweils Geehrten bezogen ist, »auf die Würde, die einem Menschen eigen ist, sofern er mehr ist als alles, was er schafft«, so gilt doch, daß wir die diesjährigen Preisträger nur dann recht würdigen und verstehen können, wenn wir begreifen, daß sie mit ihrer Persönlichkeit und mit ihrem Werk auf eine Welt hinweisen, in der Begriffe wie Friede und Einheit eine besondere, unverwechselbare heilsgeschichtliche Bedeutung haben, auf die Welt des Alten und Neuen Testamentes, des heilsgeschichtlichen Einbruchs Gottes in die Menschheit. Dabei wird einsichtig, daß die Vokabeln »schalom« im Alten Testament und »είρήνη« im Neuen Testament, die wir mit Friede übersetzen, ein weitaus breiteres Bedeutungsfeld besitzen als unser deutsches Wort Friede und daß sie nur aus der geistigen, religiösen Situation der biblischen Welt und Heilsbotschaft voll verstanden werden können. Das hebräische Wort »schalom« im Alten Testament besitzt eine Grundbedeutung, die sich etwa mit »Wohlsein, Wohlbefinden« wiedergeben läßt. Dieser Begriff steht in einer engen, theologisch bedeutsamen Verbindung mit einem anderen wichtigen biblischen Terminus, mit dem Begriff »berith«, Bund. In dieser Verbindung wird »schalom«, Friede, dann zu einem Ausdruck der Heilsgesinnung Gottes gegenüber seinem Volke. Frieden haben und einem Menschen Frieden wünschen besagt demnach zuerst: Frieden mit Gott haben, unter dem Segen Gottes stehen. Dieser Friede mit Gott birgt jedoch, wie auch das rabbinische Schrifttum zeigt, ein Verhältnis zum Mitmenschen in sich, das bereits auf das neutestamentliche Liebesgebot verweist. Für den Friedensbegriff des Neuen Testamentes sind die Worte Jesu bei der Aussendung der Jünger aufhellend. Im Matthäus-Evangelium findet sich das Herrenwort: »Bei eurem Eintritt wünscht dem Hause Frieden. Ist nun das Haus es wert, so wird der Friede, den ihr wünscht, ihm auch zuteil; verdient es ihn aber nicht, so fällt der Friedensgruß auf euch zurück.« (Matth. 10, 12-13). Hier ist der Friedensgruß, wie er heute noch im Morgenland üblich ist, neu interpretiert: er bedeutet Heil, das Heil, das der Erlöser der Welt bringt. Heinrich Zimmermann sagt in seinem jüngst erschienenen Aufsatz »Friede im Verständnis des Neuen Testamentes«: »Wenn der auferstandene Herr die Jünger mit είρήνη ύμίν anredet, so entbietet er ihnen den jüdischen Gruß, aber er schenkt ihnen damit zugleich das Heil, das er als der Erhöhte zu geben vermag. Die Welt kann dieses Heil nur wünschen, er dagegen schenkt es wirklich.« Ganz deutlich wird die Besonderheit und Andersartigkeit des neutestamentlichen Friedensbegriffes, wenn es im Johannes-Evangelium heißt: »Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Ich gebe euch keinen Frieden, wie die Welt ihn gibt.« (Joh. 14, 27). Dieses Wort darf nicht verstanden werden als Absage an die irdischen Friedensbemühungen. Die Andersartigkeit des Friedensbegriffes, die uns hier begegnet, schließt nicht die Notwendigkeit aus, auch im irdischen Bereich mit irdisch-politischen Mitteln Frieden zu stiften und Frieden zu halten, zeigt uns jedoch die Vordergründigkeit und Vorläufigkeit unseres politischen Tuns. All dieses Tun bleibt notwendig und unerläßlich, bedarf aber für den Gläubigen der rechten Einordnung und des rechten Maßes. Im Epheser-Brief heißt es: »Denn er ist unser Friede, der da beide zu einem machte und die Scheidewand des Zaunes niederriß, die Feindschaft in seinem Fleische, das Gesetz der Gebote, die Satzungen sind, vernichtete, auf daß er die zwei in ihm zu einem neuen Menschen schaffe, Frieden stiftend, und versöhne die beiden in einem Leib Gott durch das Kreuz, er, der die Feindschaft getötet in ihm. Und er kam und verkündete Frieden euch den Fernen und Frieden den Nahen; denn durch ihn haben wir beide in einem Geist Zugang zum Vater.« (Eph. 2, 14-18).
Es ist hier nicht der Platz, die Analyse des Wortes Friede, das sich 91mal im Neuen Testament findet, selten in seiner griechischen Grundbedeutung - als Ausdruck für den politischen Friedenszustand - bis zu seiner eben umrissenen Anhebung zum eschatologischen Begriff ausführlicher darzulegen. Die entscheidende Aussage, die das Neue Testament mit ihm jedenfalls verkündet, ist, daß der »Raum Gottes und der Welt« zusammengeschlossen werden zu einem »Raum der Nähe Gottes«. Friede ist somit das durch Christus geschenkte Leben, und das Evangelium des Friedens (Eph. 6, 15) dient der Versöhnung des Menschen mit Gott, es ist »Dienst der Versöhnung« (2. Kor. 5, 18). Der Friede ist aber zugleich auch das Aufbauprinzip der Gemeinde, der Kirche. Indem der Friede von den je einzelnen gehalten wird, indem sie das, was sie als Gabe Gottes empfangen haben, in ihrer konkreten Existenz aktualisieren, bauen sie mit am Bau der Gemeinde. Insofern bedingen Friede und Einheit einander, das »Band des Friedens« bewahrt die Einheit des Geistes (Eph. 4, 3). Auch dieser Gedanke ist zunächst nur auf die innerkirchliche Situation bezogen, gewinnt aber doch bei einer tieferen Betrachtungsweise eine weit über die Kirche hinausgreifende Bedeutung. In dem Maße, in dem der Friede durch ein aktives Tun, durch aktive Friedenspolitik, durch Aussöhnung der einzelnen und der Völker, gefördert wird, in dem Maße verwirklicht sich die Solidarität und die Einheit der Menschen vor Gott. Zugleich aber wird hier sichtbar, daß Friede auch im politischen Raum nicht lediglich eine Angelegenheit des äußeren Wohlverhaltens ist, sondern immer voraussetzt eine bestimmte innere Gesinnung, den Geist der Versöhnung und Aussöhnung, den Geist der Brüderlichkeit, und all dies erscheint dann als Abbild des eigentlich Versöhnung stiftenden Werkes in der menschlichen Geschichte, der Menschwerdung und des Opfertodes Christi.
Friede ist in der Welt des Neuen Testaments weitaus mehr als nur das zeitweilige Ruhen der Waffen, mehr als die Eintracht der Nationen - wiewohl auch das schon sehr viel ist und wiewohl es auch Tag für Tag darum zu kämpfen gilt -, er ist zunächst Gabe Gottes, ist ein personales Element. Und ebenso kann die Einheit niemals nur als »organisatorische«, als »institutionelle« Einheit verstanden werden. Die organisatorische Einheit stellt allenfalls eine Konsequenz und den sichtbaren Ausdruck einer geistigen Einheit dar.
Schon das frühgriechische Denken kennt die Einsicht, daß Entwicklung und Fortschritt in der Welt stets auf Auseinandersetzung beruhen, auf Kontrasten, auf Gegensätzen. Wer unter Frieden ein Verstummen dieser Gegensätze und unter Einheit ein gewaltsames Unterwerfen alles Individuellen unter ein dominierendes organisatorisches Prinzip versteht, der läßt die geistigen Kräfte der Menschen und Völker erstarren und macht sich zum Anwalt eines vielleicht äußerlich imponierenden, zugleich aber monotonen Gemeinwesens, das in seiner lähmenden Geschlossenheit einen Angriff auf die Freiheit des Menschen darstellen müßte. Ein solches Land Utopia wird in unserer Zeit, die erfüllt ist von ideologischen Gegensätzen und gefährlichen politischen Spannungen, zwar nicht selten vorschnell ersehnt, der Preis jedoch, der für ein solches Gemeinwesen zu leisten wäre, wäre immer nur der Preis der persönlichen Freiheit.
Unsere Preisträger stehen unter einer anderen, den Raum menschlicher Planung überschreitenden Friedensverheißung und unter einem Glauben an die Einheit der Menschen, der mit Vereinheitlichung nichts zu tun hat. Wenn aber Friede im eigentlichen Sinne Geschenk und Gabe Gottes ist, was bedeutet dann »Arbeit für den Frieden«? Denn der Friede, wie ihn das Neue Testament versteht, kann ja nicht hergestellt, kann ja nicht geschaffen werden. Aktive Friedensarbeit bedeutet die Zurüstung und Bereitung der Herzen und menschlichen Gesinnung, um den Frieden als Gottes Gabe zu empfangen, ihn zu bewahren und nicht zu verlieren. Auch die Einheit ist Geschenk Gottes, und das Werk dieser beiden Preisträger besteht nicht darin, daß sie die Einheit schaffen, sondern daß sie auf die Einheit vorbereiten, daß sie Mauern niederreißen, Scheidewände abbauen, Tore aufschließen. Indem sie das tun, in Gesinnung, Wort und Werk, dienen sie der Solidarität der Menschen, der Christen und Nichtchristen, der Nahen und der Fernen.
Auch hier wird wiederum deutlich, wie sehr das Werk der Preisträger, wiewohl es ein auf die Kirche bezogenes Werk ist, über den Bereich der Kirche hinaus auf die Menschheit weist. Denn es geht ja nicht nur um den Frieden der Christen, sondern es geht um den Frieden der Menschen, und die Christen werden in dem Maße glaubwürdig ihren Herrn bezeugen, wie sie bereit sind, über den Bereich ihrer Kirche hinaus friedenstiftend zu wirken.
In der Meßliturgie der katholischen Kirche lautet das Stillgebet der Votivmesse um Frieden: »Deus, qui credentes in te populos nullis sinis concuti terroribus: dignare preccs et hostias dicatae tibi plebis suscipere; ut pax, a tua pietate concessa, christianorum fines ab omni hoste faciat esse securos« -»Gott, Du duldest nicht, daß Schrecknisse die Völker erschüttern, die an Dich glauben; laß Dich herab, die Gebete und Opfer des Dir geweihten Volkes anzunehmen, auf daß der Friede, den Deine Vaterhuld uns schenkt, die christlichen Länder vor jedem Feinde sicherstelle.« Ich meine, daß das nicht genügt, daß es nicht nur um den Frieden der Christen geht, sondern um den Frieden aller Menschen. Wir werden auch in unserem politischen Alltag nur dann verhindern, daß Begriffe wie »Friede«, »Einheit«, »Freiheit« zu abgegriffenen Münzen werden, wenn wir bereit sind, stets mit dem Einsatz unserer ganzen Person den Frieden nicht nur zu postulieren, sondern auch ins Werk zu setzen, den Frieden für Alle.
Und das zeichnet das Leben dieser Preisträger aus, daß sie nicht nur über den Frieden geschrieben haben, daß sie nicht nur theologische Erwägungen zum Problem der Einheit der Kirche angestellt haben, sondern daß sie in ihrer Haltung und in ihrem konkreten kirchenpolitischen Handeln dem Frieden und der Einheit aller Menschen dienten und noch dienen.
Es ist bekannt, daß Visser't Hooft bis in dieses Jahr Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen war. Es ist bekannt, daß Augustin Kardinal Bea über fast zwei Jahrzehnte Rektor des Päpstlichen Bibelinstitutes gewesen ist und als Leiter des Sekretariats für die Förderung der Einheit der Christen entscheidend den ökumenischen Charakter des Konzils beeinflußt hat. Fragt man, was für das Lebenswerk der beiden Preisträger kennzeichnend ist, so ist es die Bemühung um den Dialog der Kirchen als Voraussetzung der ersehnten Einheit. Das Bekenntnis zum Dialog und das Meditieren über den Dialog stehen sinngemäß auch in der Mitte ihrer Schriften, besonders die Theologie Visser't Hoofts könnte man als Theologie des Dialogs bezeichnen. Nicht zufällig ist neben dem großen Karl Barth der Philosoph des Dialogs Martin Buber - auch er Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels - einer seiner Lehrer.
Wer das Wort Dialog gebraucht, der sollte sich bewußt sein, daß mit ihm ein personaler Begriff angesprochen wird. Der Dialog der Kirchen ist nicht möglich ohne den Dialog der konkreten Personen, die ihn führen. Einheit und Friede setzen stets den Dialog voraus, und die dialogische Existenz des Menschen ist eine anthropologische Grundbefindlichkeit. Der Mensch ist das Wesen des Dialogs, seine Existenz ist von Anfang an dialogische Existenz. Der Mensch, der sich in die Vereinzelung zurückzieht, gibt einen Teil seiner Menschlichkeit auf. Die literarische Fiktion vom Robinson-Dasein bezeichnet einen Notzustand und letztlich eine Verkümmerung. Das aristotelische Wort vom Menschen als zoon politikon (- dem Wesen der Polis -) entfaltet seine ganze Wahrheit erst, wenn in der Gemeinschaft die Fülle der Verflechtungen erkannt wird, die sich unter den Menschen gebildet haben und Tag für Tag neu bilden. Ist aber die menschliche Existenz dialogische Existenz und existiert der Mensch im Hinblick auf ein Du, dann gilt das auch und in besonderem Maße für die Stellung des Menschen gegenüber Gott, der den Menschen als Sein Du geschaffen hat. Friede unter den Menschen setzt die Aktualisierung der dialogischen Existenz voraus, das heißt: die volle Bejahung des anderen Menschen, der mir begegnet und dem ich begegne, Beide, Kardinal Bea und Visser't Hooft, haben in vielfältiger Weise darauf hingewiesen, daß das Verhältnis Gottes zu den Menschen der entscheidende Grund für die Solidarität der Menschen untereinander ist. Dialogische Existenz bedeutet immer auch verbundene Existenz. Bei aller Andersartigkeit und Unterschiedlichkeit gibt es die von Gott aus Liebe gewollte Verbundenheit, die die Individualität nicht aufhebt, aber die Geschöpfe in eine lebendige innere Beziehung setzt. Die Tatsache, daß jeder Mensch Gottes Du ist, begründet aber noch mehr als nur eine menschliche Solidarität. Sie begründet die Einheit des Menschengeschlechtes vor Gott. So wie der einzelne Mensch Gleichnis Gottes ist, so soll das Verhältnis des Menschen zum Menschen Gleichnis des Verhältnisses Gott-Mensch sein, das heißt: die Liebe, die das Grundgesetz der Schöpfung ist, die Bejahung des Du, wird somit zur menschlichen Grundhaltung schlechthin. Gerade das macht die Ungeheuerlichkeit des Hasses aus, daß der hassende Mensch den Gehaßten verneint. Er will ihn »vernichten« in des Wortes wahrster Bedeutung, er will ihn ausgelöscht sehen. Nur wer sich das klar vor Augen führt, wird die scharfe Verurteilung des Hasses durch Christus verstehen können. »Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll dem Gerichte verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, der wird des Gerichtes schuldig sein« (Matth. 5, 21 f); und im ersten Johannesbrief lesen wir: »Jeder, der seinen Bruder haßt, ist ein Menschenmörder, und ihr wißt, daß kein Menschenmörder ewiges Leben bleibend in sich trägt« (I. Joh. 3, 15). Haß und Mord werden hier ausdrücklich gleichrangig behandelt, beide sind Verneinung des Menschen; der Haß nimmt gewissermaßen den Mord, der das physische Leben vernichtet, im geistigen Raum vorweg.
Wir haben es hier mit allem anderen zu tun als mit einer sentimentalen Auffassung von Frieden und Liebe. Das, was hier als Liebe bezeichnet wird, setzt Mut und Tapferkeit des Herzens voraus. Liebe hat hier nichts mit Sympathie oder Antipathie zu tun, sondern ist ein schöpferischer Akt des Heilswollens. Wir sollten uns auch in dieser Stunde fragen, was das für unsere Haltung im Alltag konkret bedeutet. Es bedeutet den Verzicht auf Gewalt, den Verzicht auf Diskriminierung, es verlangt eine Haltung, die dem Gegner - sei es der persönliche Gegner, sei es der politische Gegner - wohlwill. Es schließt die Gleichgültigkeit aus. Es bedeutet die Sorge der Christen für die Nichtchristen, der Gläubigen für die Ungläubigen. Daß ich nicht nur mein Heil, sondern auch das Heil des anderen will, wo immer er auch steht, das ist entscheidend. Erst in solchen Konkretisationen wird uns die ganze Radikalität der Welt spürbar, die die Heimat von Augustin Bea und Visser't Hooft ist.
In unserer konkreten historischen Situation haben diese biblischen Postulate ohne Zweifel eine besondere Bedeutung gewonnen, sie sind in der Mitte unseres Jahrhunderts für jeden von uns existenzieller und dringlicher geworden als vielleicht jemals zuvor. Die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft und Technik hat ja dazu geführt, daß die Erde jetzt wirklich eine geschichtliche Einheit geworden ist. Man kann sagen: sie ist jetzt zum ersten Mal »rund«, rund in dem Sinne, daß es auf ihr keine isolierten Ereignisse von eigentlicher Bedeutung gibt. Jetzt stehen nicht mehr verschiedene mehr oder weniger isolierte geschichtliche Felder nebeneinander, etwa die Vereinigten Staaten, oder Europa, oder Asien, jetzt gibt es eigentlich nur noch ein geschichtliches Feld, eben die Erde, und wir erleben zur Zeit, daß sich dieses geschichtliche Feld geradezu »planetarisch« erweitert. Das bedeutet aber, daß es nicht mehr die Möglichkeit verschiedener Boote gibt, sondern nur noch das eine Boot, in dem wir alle sitzen, ob wir es wissen oder nicht, ob wir es wollen oder nicht. Die in früheren Zeiten bekannte, noch geläufige Relation »weit entfernt« ist für unsere Tage ungültig geworden, weit entfernt ist nicht einmal mehr der Weltraum, die Verflechtung der Menschen und Völker hat sich so verdichtet, daß ein Schuß in einem anderen Kontinent oder ein gelungenes Experiment auf einem anderen Planeten unseren Alltag beeinflussen können.
Es ist nicht abzustreiten, daß diese Einsicht zunächst recht negative Folgen hatte: die Furcht, die Sorge sind zu ständigen Begleitern unseres Alltags geworden, die Sehnsucht nach Frieden und Einheit ist ständig begleitet von dem besorgten Blick auf irgendeinen politisch bedrohlichen Spannungsraum. Zugleich aber wächst eine Erkenntnis, die Kardinal Bea in seinem Buch »Einheit und Freiheit« wie folgt umriß: »Die Erforschung des Weltraumes bringt den Menschen mehr und mehr zum Bewußtsein, daß sie eine einzige Familie auf dieser Erde bilden, daß die moderne Welt ungeahnte Wege und Mittel bereithält, um aus der Menschheit eine Familie im wahrsten Sinne des Wortes zu machen, eine Familie, die nicht nur an der gleichen Menschennatur Anteil hat, sondern auch die physischen, intellektuellen und geistigen Mittel der Welt als ihren gemeinsamen Besitz betrachtet; auch wächst das Bewußtsein um die Verpflichtung, von diesen Mitteln den rechten Gebrauch zu machen, so daß die Solidarität der Menschheitsfamilie kein bloßes Ideal bleibt, sondern Wirklichkeit wird« Und Kardinal Bea zieht daraus die Folgerung: »Wirkliche Einheit unter Menschen muß ein menschliches Werk sein, sie muß hervorgehen aus der bewußten Begegnung freier Menschen.« Dieser Universalismus - hier begegnen sich die beiden Preisträger - wird auch bei Visser't Hooft zum Anlaß intensiver, bohrender Auseinandersetzungen. In seinem Buch »Kein anderer Name« untersucht er den Synkretismus, der zum Phänomen besonders des geistig engagierten modernen Menschen geworden ist, und stellt die Frage: »Aber bleibt nicht die Wahrheit bestehen, daß wir heute mehr denn je eine Weltreligion brauchen, die eine tragfähige Grundlage für die Solidarität der Menschen in einer immer kleiner werdenden Welt bietet? Und gibt es irgendeinen anderen Weg, außer durch eine Form von Synkretismus, um zu solch einer gemeinsamen Menschheitsreligion zu gelangen? Denn wenn wir nicht versuchen, die Religion zu harmonisieren, wie werden wir dann jemals das gemeinsame Ethos, das allgemein anerkannte System geistiger Werte und sittlicher Prinzipien finden, das wir brauchen, um unsere babylonische, geistige und sittliche Verwirrung zu überwinden, den Krieg der Ideologien zu beenden und internationalem Recht und Sittlichkeit eine feste Grundlage zu geben?« Es ist einsichtig - und Visser't Hooft läßt keinen Zweifel darüber -, daß Menschen, die unter der Verheißung und dem Ruf der christlichen Offenbarung stehen, diesem Weg eine Absage erteilen müssen. Nicht daß diese Fragen überhaupt gestellt werden, sondern wie sie gestellt werden, aus welcher Haltung und welcher Verantwortung für die Welt, das ist neu und Zeichen unserer Zeit, Zeichen unseres neuen Solidaritätsbewußtseins und Zeichen der Verantwortlichkeit, die sich dem Christen für die gesamte Welt, dem Glaubenden wie dem Zweifelnden wie dem Andersdenkenden, stellt. Visser't Hooft und Bea wissen, daß der Synkretismus keine Lösung ist: er ist Vereinheitlichung, aber nicht Einheit. Sie wissen aber zugleich um das Gebot, den anderen, den andersdenkenden Menschen so ernst zu nehmen wie den Bruder im Glauben, sie wissen um die Solidarität der Menschen jenseits der Differenzen ihres Bildes von der Welt. Ja, die Toleranz, die Achtung vor dem anderen wird ihnen zu einem göttlichen Gebot. »Wenn Gott, der der absolute Herr der Menschen ist und der die geheimsten Gedanken durchforscht, die menschliche Freiheit achtet und sie nicht vergewaltigt« - so sagt Bea einmal -, »wieviel mehr müssen wir das tun in bezug auf unsere Brüder, arme Menschen, die wir sind.« Und bei Visser't Hooft findet sich über den Geist, in dem sich diese Begegnung der Menschen über ihre Glaubensdifferenzen hinweg gestaltet, die Aussage: »Martin Buber, von dem die vielleicht tiefgründigste Analyse des Wesens des Dialogs stammt, hat sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, daß die Voraussetzung für ein echtes Gespräch nicht darin besteht, daß die Partner sich von vornherein darin einig sind, ihre eigenen Überzeugungen zu relativieren, sondern daß beide sich gegenseitig als Personen akzeptieren. Die wesentlichste Bedingung, um zu jemandem in ein echtes Verhältnis zu kommen, ist nicht, daß er mit mir oder ich mit ihm übereinstimme, oder daß wir beide bereit sind, einen Kompromiß auszuhandeln, sondern vielmehr, daß ich mich dem anderen zuwende mit der Bereitschaft, ihm zuzuhören, ihn zu verstehen und eine gegenseitige Bereicherung anzustreben. Ich dränge ihm meine Persönlichkeit nicht auf, sondern stelle mich mit allem, was ich bin, zu seiner Verfügung.« »Denn Menschen«, so heißt es an einer anderen Stelle, »die das Evangelium nicht hören oder nicht hören können, bleiben Geschöpfe Gottes, und Brüder, für die Christus starb.«
Das Medium, in dem die Begegnung mit dem anderen Menschen stattfindet, ist für Kardinal Bea und Visser't Hooft die Ehrfurcht und die Liebe zum Nächsten als einem Geschöpf Gottes. Wenn sie in ihrem Leben und Denken für Frieden und Einheit standen und stehen, dann gewiß auch aus Gründen, wie sie vorhin angedeutet wurden: aus Sorge um die Zukunft unserer Völker, in der Erkenntnis der Lebensgesetze, unter denen wir heute stehen. Den innersten Antrieb ihres Handelns verstehen wir aber nur, wenn wir sie als Gesprächspartner eines Dialoges sehen, bei dem auf der einen Seite derjenige steht, der sich im Glauben seiner Heilszuversicht bewußt geworden ist, auf der anderen Seite aber derjenige, der - ob gleicher Überzeugung oder anderer - unter dem gleichen Heilsangebot lebt und damit enger verbunden ist als durch alle Bande des Blutes, der Heimat oder der Gesinnung. Damit ist aber erst eindeutig, daß Wirken für Frieden und Einheit nicht und niemals eine kleinmütige Zurücknahme des eigenen Standpunktes, ein Nachgeben um jeden Preis, ein Aufgehen in dem größtmöglichen gemeinschaftlichen Nenner, so wie ihn die sozialen und politischen Verhältnisse anbieten mögen, bedeuten kann. Eine solche Haltung würde gerade die wahre, die geoffenbarte Solidarität der Menschen verraten und an ihre Stelle den Götzen eines utopischen Pragmatismus stellen, der an der Natur des Menschen zerschellt. Hier ist nichts gegen das bewundernswerte humanitäre Ethos aller der Menschen gesagt, die täglich in der Anspannung ihrer politischen Aufgabe Konflikte befrieden, Gegensätze abmildern, Kontakte herstellen. Sie verdienen unsere volle Achtung und unseren Dank. Wenn der Preis des Deutschen Buchhandels aber in diesem Jahr Männern verliehen wurde, die von ihrem Glauben - und vor allem anderen von ihrem Glauben - geprägt sind, dann sollten wir uns in dieser Stunde nicht der Einsicht verschließen, daß alle diese humanitären Bemühungen vor unüberschreitbare Grenzen gestellt sind, daß der ewige Friede von menschlicher Hand und menschlicher Intelligenz nicht geschaffen werden kann, und daß das Zeugnis unserer Preisträger eine Hoffnung auf einen Frieden verspricht, der außerhalb, oder besser oberhalb dieser menschlichen Bemühungen steht, der aber zugleich das volle Ja zur Freiheit des Menschen, zur Freiheit seines Gewissens und zur Freiheit seiner religiösen Überzeugung einschließt. Kardinal Bea hat einmal das Wort Augustins zitiert: »odisse errores, diligere errantes« und jeden Versuch, Menschen, die anders denken, als menschliche Feinde zu betrachten, als widerchristlich verworfen. Nicht aus einem zeitbedingten, angesichts der pluralistischen Gesellschaft wohlverstandenen Eigeninteresse kommt es den Kirchen zu, für die Freiheit des Gewissens und der religiösen Überzeugung einzustehen, sondern weil diese Freiheiten zur Würde der menschlichen Person unverzichtbar gehören, müssen die Kirchen ihr erster Anwalt sein. In diesem Sinne ist Religionsfreiheit denn auch mehr als bloße Toleranz, und es ist kein geringer Unterschied, ob die Kirchen die - nach ihrer Gewißheit von der objektiven Wahrheit - irrende Glaubenshaltung der einzelnen nur tolerieren oder als verantwortliche Gewissensentscheidung anerkennen. Das Ja des II. Vatikanischen Konzils zum Grundsatz der Religionsfreiheit ist nicht zuletzt - menschlich gesprochen - das Verdienst Kardinal Beas.
»Diligere errantes« - nur so ist Friede auf der Welt möglich, wenn die Achtung vor dem Mitmenschen, vor seiner unantastbaren Würde, höher und tiefer gewertet wird als der unüberbrückbare Gegensatz der Meinungen. Wenn man dies sieht, so weiß man, daß es heute bei dieser Ehrung nicht allein um Verdienste geht, die sich Menschen um die Einheit der Konfessionen erworben haben, um den Abbau theologischer Gegensätze und um das Gespräch zwischen den Kirchen, sondern daß diese Bemühungen transparent sind für jedes Gespräch zwischen Menschen gleich welcher Rasse und Konfession. Friede unter Menschen ist nur möglich, wenn die Ehrfurcht vor dem Nächsten größer ist als ideologische Verklammerungen und Verkrustungen.
Die Einheit und der Friede, um den die Preisträger, die wir heute ehren, sich bemüht und verdient gemacht haben, ist die Einheit der Christen, die Einheit der gespaltenen Kirchen. Auch hier kann es niemandem um eine Wegtäuschung der theologischen Gegensätze gehen, die nun einmal bestehen und die ein Zeichen sind, daß die Kirche in dieser Welt nicht eine triumphierende Kirche, sondern eine kämpfende Kirche, das heißt: eine pilgernde und leidende Kirche ist. Friede und Einheit stehen in einer bemerkenswerten Dialektik, wie sie der anglikanische Erzbischof Temple in der Eröffnungspredigt bei der Weltkonferenz für Glaube und Kirchenverfassung in Edinburgh charakterisierte: »Wir könnten die Einheit nicht suchen, wenn wir sie nicht bereits besäßen. Nur weil wir eins sind in der Treue zu dem einen Herrn, erhoffen und suchen wir einen Weg, diese Einheit in unserem Zeugnis für diesen Herrn vor aller Welt zu manifestieren.« Und Temple weist darauf hin, daß die Einheit eine erfahrene Tatsache, nicht ein Thema unserer Sehnsucht sei - sie sei gegründet auf die erlösenden Taten des einen Herrn der Kirche.
Bei allem Bewußtsein der Gegensätze ist das Streben der heutigen Preisträger erfüllt von einem christlichen Optimismus, getragen von der gemeinsamen Verpflichtung, dem gemeinsamen Dienst an der Botschaft Jesu Christi. So ist es kein schmückendes Beiwerk, sondern führt in den innersten Kern, wenn in den Schriften Beas und Visser't Hoofts immer wieder vom Gebet die Rede ist als einem sichtbaren Zeichen der schon bestehenden Einheit, oder wenn in den Beratungen der ökumenischen Bewegung die Gemeinsamkeit des Abendmahls solch zentrale Bedeutung besaß. Das Gewonnensein für Christus birgt Frieden und Einheit, es steht unter derselben Dialektik wie das Wort von der angebrochenen Zeit der Königsherrschaft Gottes: sie ist schon da - sie ist aber zugleich Verheißung voran in die Zukunft. So ist das Denken und die Arbeit Kardinal Beas wie Visser't Hoofts schließlich eschatologisch zu verstehen: es festigt sich an der Gewißheit und in dem Bewußtsein des Anbruchs der Endzeit und der Verheißung der vollen Gemeinschaft mit Christus in Gottes Reich.
Das Werk der beiden Preisträger ist ein Werk für die Kirche. In seiner friedenstiftenden Kraft weist es aber über den kirchlichen Bereich hinaus auf die Gemeinschaft aller Menschen. Diese Solidarität aller Menschen hat ihren eigentlichen Grund in der Tatsache, daß Gott Mensch wurde und damit unser aller Bruder. Im Epheser-Brief heißt es: »Jetzt aber, in der Gemeinschaft mit Jesus Christus, seid ihr, die ihr einst ferngestanden, durch Christi Blut nahegebracht worden. Denn Er ist unser Friede.«
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