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Friedenspreis 1998

Martin Walser

Der Stiftungsrat hat den deutschen Schriftsteller Martin Walser zum Träger des Friedenspreises 1998 gewählt. Die Verleihung fand während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 11. Oktober 1998, in der Paulskirche statt. Die Laudatio hielt Frank Schirrmacher.

Begründung der Jury

Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein 1998 Martin Walser. Er ehrt damit den deutschen Schriftsteller, dessen literarisches Werk die deutschen Wirklichkeiten der zweiten Jahrhunderthälfte beschreibend, kommentierend und eingreifend begleitet hat.


Martin Walsers erzählerische und essayistische Kunst, die der »Gegenwehr gegen den Mangel« entspringt, hat den Deutschen das eigene Land und der Welt Deutschland erklärt und wieder nahegebracht. Mit seiner Kritik an der deutschen Teilung, die er schon früh als überwindbaren Zwischenzustand bezeichnete, hat Martin Walser eine Forderung vorweggenommen, deren Einlösung später von den Menschen in der DDR vollzogen wurde.

Preisverleihung

Reden

Gerhard Kurtze
Grußwort des Vorstehers

Denn kaum ein anderer hat dem vereinigten Land so Überraschendes abgehört wie Martin Walser. Er war der Erste, der die Entwicklung der neuen Bundesländer als Teil der eigenen Geschichte begriffen hat. Als Chronist der Unvorhersehbarkeit entlastet er die Literatur und ihre Leser von dem Albdruck, wissen zu müssen, was morgen kommt.

Frank Schirrmacher - Laudatio auf Martin Walser
Frank Schirrmacher
Laudatio

Das fällt mir ein, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets. Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft?

Martin Walser - Dankesrede
Martin Walser
Dankesrede des Preisträgers

Chronik des Jahres 1998

+++ Der Bundestag beschließt im Januar 1998 eine Grundgesetzänderung zur Einführung des »Großen Lauschangriffs«. SPD, Grüne und PDS setzen mithilfe einiger FDP-Abgeordneter jedoch durch, dass die akustische Überwachung bei allen Berufsgruppen verboten ist, denen die Strafprozessordnung ein Zeugnisverweigerungsrecht einräumt. +++ Ende April erklärt die Rote Armee Fraktion fast 28 Jahre nach ihrer Gründung ihre Auflösung. +++


Nach den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, bei denen die Deutsche Volksunion 12,9 Prozent der Stimmen erreicht, zieht erstmals eine rechtsextreme Partei in ein Parlament der neuen Bundesländer ein. +++ Bei fast zeitgleich erfolgten Terroranschlägen vor den US-amerikanischen Botschaften in den Hauptstädten Kenias und Tansanias am 7. August werden 224 Menschen getötet und mehr als 5000 verletzt. Als Drahtzieher der Attentate wird der islamische Extremist Osama bin Laden verdächtigt. Einen Tag später nehmen Taliban, Krieger des radikal-islamischen Regimes in Kabul / Afghanistan, die Stadt Masar-i-Scharif ein. +++ Menschenrechtsorganisationen sprechen von einer drei Tage anhaltenden »Mord-Orgie«, in deren Verlauf rund 2000 Einwohner der Stadt ermordet werden. Bei der Bundestagswahl geht die Ära Kohl zu Ende. SPD und Bündnis 90 / Grüne nehmen nach der Wahl Koalitionsverhandlungen auf. Im Oktober wird Gerhard Schröder zum ersten Bundeskanzler einer rot-grünen Koalition gewählt. +++ Die fünf Lordrichter, die oberste britische Instanz, urteilen im November im Fall des chilenischen Ex-Diktators Augusto Pinochet, dass kein ehemaliges Staatsoberhaupt für Folter, Verschleppung und Mord Straffreiheit beanspruchen kann. Menschenrechtler begrüßen den Richterspruch als einen »Wendepunkt im Völkerrecht«. +++

Biographie Martin Walser

Martin Walser wird am 24. März 1927 als Sohn eines Gastwirts in Wasserburg am Bodensee geboren. Als Zehnjähriger verliert er den Vater und muss schon früh der Mutter in der Gastwirtschaft helfen. Schon mit zwölf Jahren schreibt er erste Gedichte. Nach dem Kriegsdienst als Flakhelfer ab 1943 und dem Besuch der Oberschule in Lindau mit Abitur im Jahr 1946 studiert Walser in Regensburg und an der Universität Tübingen Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte. 1951 promoviert er mit der »Beschreibung einer Form. Versuch über Franz Kafka« (Buchausgabe 1961).


Von 1949-1957 arbeitet Walser in Stuttgart beim Süddeutschen Rundfunk als Reporter, Regisseur und Hörspielautor. Sein literarisches Schaffen nimmt die Öffentlichkeit erstmals 1955 wahr, als ein Band mit Erzählungen (»Ein Flugzeug über dem Haus«) erscheint. Für die darin enthaltene Geschichte, »Templones Ende«, erhält Walser den Preis der längst legendären »Gruppe 47«. Sein Romanerstling, »Ehen in Philippsburg«, wird zwei Jahre später (1957) mit dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet. Im gleichen Jahr lässt sich Walser als freier Schriftsteller am Bodensee nieder.
»Ein Glanzstück deutscher Prosa«, in dem sich Martin Walser einmal mehr als Meister der Beobachtung und der Psychologie, als Virtuose der Sprache bewährt, legt der Autor nach Kritikermeinung 1978 mit dem Band »Ein fliehendes Pferd« vor. Zu Bestsellern, ob Meister- oder Nebenwerke, werden auch die folgenden Arbeiten wie der Roman »Seelenarbeit« (1979), in dem Walser das Verhältnis von Herr und Knecht untersucht, »Das Schwanenhaus« (1980) um den unlustig makelnden Gottlieb Zürn, der Roman »Brief an Lord Liszt« (1982), in dem der geschwächte Held Franz Horn unter seinem Vorgesetzten Qualen leidet, der Roman »Brandung« (1985), der das bravouröse Versteckspiel des Helden vor dem Altern zum Thema hat, oder sein Selbsterforschungsbuch »Meßmers Gedanken«. Dieses setzt er 2003 mit dem Band »Meßmers Reisen« fort, in dem der Autor vor dem Hintergrund von Lesereisen in meist kurzen, pointierten Aphorismen über sein Uneinssein mit sich und den Menschen reflektiert.

Als einer der ersten Groß-Autoren des Landes schreibt Walser, der seine Freude über die deutsche Wiedervereinigung »untrübbar« nennt, mit »Die Verteidigung der Kindheit« (1991) einen Roman mit einem unmittelbaren Bezug zur deutschen Einheit. Hier verbindet der »literarische Experte für Identitätsbeschädigung«, wie Walser über sich selbst sagt, die alles belastende und beschädigende politische Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der aus ihr folgenden deutschen Teilung mit der beschädigten Lebensgeschichte einer heiklen, zerklüfteten, gestörten Figur, der von früh an durch widrige Lebensumstände zugesetzt wurde. Einen Roman über den deutschen Politikalltag schreibt Walser mit dem 1996 erschienenen Buch »Finks Krieg« um eine authentische Auseinandersetzung in der hessischen Staatskanzlei (»Affäre Gauland«). Die Fachkritik diskutiert diesen Roman um die Gegenüberstellung von Macht und Ohnmacht, von Gewinnern und Verlierern kontrovers. Mit einhelligem Lob beurteilen sie dagegen 1998 Walsers als »Meisterwerk« gefeierten, autobiographischen Roman »Ein springender Brunnen«, in dem der 70-jährige Autor seiner jugendlichen Gewesenheit in Wasserburg während des Dritten Reichs nachspürt.

Der Erzähler und Dramatiker Walser zählt zu den bedeutendsten Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur. In über fünfzig Jahren begründet er ein umfangreiches und vielseitiges Werk, das gewichtige Romane, Novellen und Geschichtensammlungen, Theaterstücke, Hörspiele und Übersetzungen, eine Vielzahl von Aufsätzen, Reden und Vorlesungen umfasst. Kritiker nennen Walser einen Epiker der Alltagswelt, einen poetischen »Chronisten des Alltagsbewusstseins und der trivialen Meinungen« (FAZ, 1987), der wie kein anderer die Befindlichkeiten der Volksseele akribisch einfängt und erzählerisch dokumentiert.

Walser sucht sich für sein politisches Engagement primär außerliterarische Betätigungsfelder. Als erster Publizist in der Bundesrepublik startet er 1961 für die SPD eine Wahlinitiative. Er engagiert sich in der Gewerkschaft und ist einer der scharfzüngigsten öffentlichen Redner, als gegen den Krieg der Amerikaner in Vietnam demonstriert wird. Als »Zeitzeuge ohne Nachholbedarf« mischt sich Walser nach Beobachtermeinung engagiert, differenziert, kritisch und versöhnend zugleich in öffentliche Diskussionen ein. Im November 1988 sorgt Walser mit seinem Auftritt in der Reihe »Reden über das eigene Land: Deutschland« für Aufsehen, als er bekennt, sich mit der deutschen Teilung nicht abfinden zu können. Später wirft man Walser eine konservative Wende und eine nationalistische Position vor. Walser bemüht sich im Feuilleton um Klarstellungen und lässt dabei seine Verletzlichkeit spüren. An sich selbst stellt Walser fest, »sich gar nicht bewegt zu haben« (FAZ, 1997), und die einzige an sich diagnostizierte Veränderung fasst er in dem Satz, »ich kann heute nur noch solche politischen Vorstellungen ausdrücken, an deren Realisierung ich selbst mitarbeiten kann«, zusammen.

Zu einer heftigen, nicht nur im Feuilleton ausgetragenen Auseinandersetzung kommt es 1998 nach Walsers Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an ihn. Der Streit entzündet sich an seiner Kritik an der »Instrumentalisierung von Auschwitz« und an seiner Aussage, die ständige Thematisierung des Holocaust als eine »Moralkeule« erreiche letztlich den gegenteiligen Effekt. Die öffentliche Rede gegen Walser führt an prominentester Stelle der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, an. Anlässlich einer Aussprache legen Walser und Bubis am 12. Dez. 1998 ihren Streit bei; Bubis nimmt den Vorwurf des »geistigen Brandstifters« zurück, und Walser verteidigt die Unmissverständlichkeit seiner Rede. Beide stimmen darin überein, dass die angemessene Sprache für den Umgang mit der deutschen Vergangenheit noch nicht gefunden ist und plädieren für ein gemeinsames Erinnern.

Martin Walser ist Träger zahlreicher Literaturpreise, Ehrendoktorwürden und weiterer Auszeichnungen, unter anderem Hermann-Hesse-Preis (1957), Gerhart-Hauptmann-Preis (1962), Büchner-Preis (1981), Gr. Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1990; für Gesamtwerk). Seit 1992 ist er Mitglied im Orden pour le mérite.

Martin Walser ist seit 1950 mit Käthe Walser, geb. Jehle, verheiratet und hat vier Töchter.

Auszeichnungen

2015 Internationaler Friedrich-Nietzsche-Preis
2010 Preis der Deutschen Gesellschaft e. V. für Verdienste um die deutsche und europäische Vereinigung
2009 Weishanhu-Preis, The People’s Literature Publishing House China


2008 Corine-Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten
2006 Finalist für den Deutschen Buchpreis Angstblüte
2005 Oberschwäbischer Kunstpreis
2002 Julius-Campe-Preis
2002 Alemannischer Literaturpreis
1999 Autor des Jahres 1998
1998 Friedenspreis des deutschen Buchhandels
1997 Wilhelm-Heinse-Medaille
1996 Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg
1994 Großes Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland
1993 Franz-Nabl-Preis
1992 Friedrich-Schiedel-Literaturpreis
1992 Aufnahme in den Orden Pour le mérite für Wissenschaft und Künste
1990 Ricarda-Huch-Preis
1990 Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste
1990 Carl-Zuckmayer-Medaille
1987 Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland
1984 Ehrenbürgerschaft seiner Heimatgemeinde Wasserburg am Bodensee
1981 Georg-Büchner-Preis
1981 Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft
1980 Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg
1980 Schiller-Gedächtnispreis
1967 Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen
1965 Schiller-Gedächtnis-Förderpreis
1962 Gerhart-Hauptmann-Preis
1957 Hermann-Hesse-Preis
1955 Preis der Gruppe 47

Bibliographie

Gesamtausgabe letzter Hand in 25 Bänden

Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2020, Sonderausgabe, ISBN 978-3-498-00180-3, 11450 Seiten

Unser Auschwitz. Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld

Rowohlt Verlag, Reinbek 2015, ISBN 9783499271267, Kartoniert, 400 Seiten, 16,99 EUR

Ein liebender Mann. Roman

Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008, ISBN 9783498073633, Gebunden, 284 Seiten, 19,90 EUR

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