1977 wird der polnische Philosoph und Publizist Leszek Kolakowski mit dem Friedenspreis ausgezeichnet. Die Verleihung fand am Sonntag, den 16. Oktober 1977, in der Paulskirche zu Frankfurt am Main statt. Die Laudatio hielt Gesine Schwan.
Begründung der Jury
Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahre 1977 Leszek Kolakowski, dem politischen Philosophen, der die Tradition der abendländischen Denker fortsetzt, der nie bereit ist, an die Unbelehrbarkeit der Menschen zu glauben, für den Offenheit des Denkens und Mut zur Wahrheit Voraussetzung aller gedanklichen Existenz ist. Weder zerstörerischer Fanatismus noch Resignation sind ihm Möglichkeiten der Wandlung.
Leszek Kolakowski lehrt uns hoffen, daß Vernunft, Bereitschaft zum Dialog und Abkehr von Intoleranz zum friedlichen Ausgleich zwischen den Menschen und deren Ideologien und Dogmen führen wird.
Reden
Sie verlangen von uns Mut, Irrtümer einzugestehen, neue Denkweisen zu akzeptieren und Vernunft vor Dogmen zu stellen.
Rolf Keller - Grußwort
Rolf Keller
Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels
Grußwort
Herr Professor Leszek Kołakowski, Herr Präsident,
meine Herren Minister, Herr Oberbürgermeister,
meine Damen und Herren.
»Daß aber auch der Friede ein anderes als Nicht-Krieg sei und werde, dazu gehört kausale wie erst recht finale Aufklärung ohne Unterlaß, eine solche also, die sich auch gar nicht davor scheut, in die so exakte wie weckende Phantasie zu greifen. Wenn die Verhältnisse den Menschen bilden, so hilft nichts als die Verhältnisse menschlich zu bilden.«
Zehn Jahre ist es her, daß diese Worte an diesem nämlichen Platze gesprochen wurden. Ernst Bloch war es, der uns damit mahnte, ermahnte, an Gewissen und Vernunft appellierte.
Wir wissen aus der Geschichte und erleben es heute aufs neue, daß durch Wort, Schrift und Buch Unfriede, Streit und Krieg entflammt werden können. Sollen wir nicht hoffen, daß Versöhnung, Verständnis und Friede ebenfalls durch sie bewirkt werden?
Weil wir das glauben und weil immer wieder Männer und Frauen sich mühen, den Weg zum streitlosen Zusammenleben der Menschen und Völker zu weisen, deshalb hat auch in diesen Tagen ein Friedenspreis seinen Sinn.
Er kann nicht mehr sein als eine Demonstration für den Frieden. Er vermag ihn weder zu stiften noch zu wahren.
Am Beispiel jener Frauen und Männer, die mit ihm ausgezeichnet werden, erkennen wir, daß die Voraussetzung für den Frieden bewußte Mitverantwortung eines jeden von uns ist; daß die Frage nach dem Frieden keine solche an die Welt, sondern an uns selbst ist.
Die Verantwortlichen für unseren Staat haben schwere Entscheidungen zu treffen. Was immer sie bewirken: Welche Dimension Haß und Terror angenommen haben - wir glauben an die Kraft des Gedankens und des Wortes. Wir werden fortfahren, auf Menschen zu deuten, die wie Sie, Herr Professor Kołakowski, unser aller Verantwortung für diese Welt ausgesprochen haben und die uns nicht aus dieser Pflicht entlassen. Sie verlangen von uns Mut, Irrtümer einzugestehen, neue Denkweisen zu akzeptieren und Vernunft vor Dogmen zu stellen.
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Rolf Keller
Grußwort des Vorstehers
Aber die Einsicht in die Relativität und Perspektivität aller menschlichen Ansprüche, nicht zuletzt aller politischen und sozialen Entwürfe, entzieht jener Hybris, jener Anmaßung den Boden, die auch in der Gegenwart so häufig das Recht sich zuspricht, die eigenen politischen Absichten ohne Achtung vor der Freiheit des Andersdenkenden mit Gewalt durchzusetzen.
Gesine Schwan - Laudatio auf Leszek Kołakowski
Gesine Schwan
Auf den Friedenspreisträger 1977
Laudatio auf Leszek Kołakowski
Daß nicht Friede, sondern Gewalt in unserer Welt noch immer vorherrschen, müssen wir gerade in dieser Stunde besonders bitter erfahren. In tiefer Solidarität denken wir an jene Menschen, die unerträglicher physischer und psychischer Bedrohung ausgesetzt sind, ebenso wie an jene, auf denen die übermäßige Last der Entscheidung und Verantwortung in der gegenwärtigen Bedrohung liegt. Daß die Verleihung eines Friedenspreises den aktuellen Frieden nicht erwirken kann, ist uns schmerzlich bewußt. Alles jedoch, was wir nun sagen und tun, steht im Zeichen des Friedens und der Anteilnahme mit jenen, die in dieser Stunde besonders unter Unfrieden und Gewalt leiden müssen.
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Lieber Leszek Kołakowski!
Wer sich als junger Deutscher zu Beginn der sechziger Jahre »links« fühlte, der sah sein politisches Engagement weniger durch die Kritik am westlichen politischen oder sozioökonomischen System herausgefordert, dachte überhaupt kaum in Kategorien des »Systems«, sondern stand primär unter dem Eindruck der moralischen Hypothek, die die jüngste Vergangenheit nicht nur der älteren Generation, sondern auch der nachkommenden überlassen hatte. Der Nationalsozialismus, noch nicht zum Spezialfall des allgemeineren Phänomens »Faschismus« katalogisiert und in akademische Distanz gebracht, gehörte zur konkret erlebten oder nacherlebten Wirklichkeit; die Beschäftigung mit ihm prägte das politische Bewußtsein ganz vorrangig. Als dringlichste politische Aufgabe galt neben der theoretischen Auseinandersetzung mit der Frage, wie es zu ihm hatte kommen können, vor allem das praktische Abtragen der Schuld, oder vorsichtiger: der Versuch, mit den so schwer heimgesuchten Nachbarnationen zu einer Verständigung, vielleicht sogar zu einer Aussöhnung zu gelangen. Da die bundesdeutsche Regierungspolitik die Bemühung um Verständigung mit dem wichtigsten westlichen Nachbarn Frankreich offiziell eingeleitet hatte und förderte, richtete sich das Augenmerk der damaligen »Linken« - in Ergänzung, nicht im Gegensatz dazu - zunehmend auf den Osten. Neben der ČSSR rückte vor allem Polen in den Mittelpunkt ihres Interesses, dem allerdings nicht nur die ideologischen Gegensätze allgemein zwischen Ost und West, sondern darüber hinaus die alles andere übersteigenden unfaßbaren Greuel der Vergangenheit, die zu dieser Zeit noch ungeklärten territorialen Fragen und nicht zuletzt die Schwierigkeiten der Sprache als Barrieren entgegenstanden. Um den Nachbarn Polen anhand eigener Quellen kennenzulernen, bot sich neben zahlreicher werdenden Zeugnissen polnischer avantgardistischer Filmkunst und langsam zunehmenden Besichtigungs- und Arbeitsfahrten u. a. eine offiziell publizierte und im Ausland propagierte Zeitschrift mit dem Namen »Polen« an, in der die Herausgeber repräsentative Einblicke in das politische, soziale und kulturelle Geschehen ihrer Nation zu geben trachteten. Als vielversprechender junger Repräsentant der polnischen Wissenschaft und bereits einflußreicher akademischer Lehrer der jungen Generation wurde hier auch ein Philosophieprofessor aus Warschau vorgestellt: Leszek Kołakowski.
Nun, Kołakowski lehrt schon seit zehn Jahren nicht mehr in Warschau, sondern in Berkeley, Montreal, Yale und Oxford, und doch behielt die Zeitschrift Recht, als sie ihn als hervorragenden Vertreter des polnischen Geisteslebens würdigte: Mit außergewöhnlicher internationaler Resonanz zeugt er, auch außerhalb Polens lebend, von der nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererstandenen Vitalität polnischen Geistes, einer Vitalität, als deren Signum nicht nationale Enge gilt, sondern Weltoffenheit und Verbundenheit mit der europäischen Geschichte und Gegenwart. Liest man Kołakowskis Schriften, so drängt seine souveräne Vertrautheit mit der philosophischen Tradition Europas die Frage nach der nationalen Herkunft dieses Philosophen sehr rasch in den Hintergrund. Und doch wirkt er eben gerade - auch außerhalb der geographischen Grenzen seines Landes - durch die Bereicherung unseres kulturellen Lebens als polnischer Patriot: ein Patriot ohne jeglichen Anflug von Nationalismus, auch ohne jeglichen Anflug von Ressentiment gegenüber Deutschland, obwohl es in seinem persönlichen Erleben, wie in dem so vieler Polen, Grund genug dafür gab. Schon deshalb erscheint es besonders glücklich und sinnvoll, daß der Börsenverein des Deutschen Buchhandels Leszek Kołakowski den Friedenspreis zugesprochen hat, und es bedeutet mir eine große Freude und dankbar angenommene ehrenvolle Aufgabe, diesem Preisträger die Laudatio zu halten.
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Die Wahl Kołakowskis zum diesjährigen Friedenspreisträger mag auch als Zeichen einer veränderten geistigen Situation im Westen gewertet werden. Jahrelang in der vergangenen Zeit mußten Intellektuelle linker Herkunft, die aus Osteuropa kamen und den dort etablierten Sozialismus kritisierten, Verständnis und fruchtbare Auseinandersetzung jedenfalls dort missen, wo sie beides zumindest auch, wenn nicht vorrangig hätten erwarten können: bei einer, wie Kołakowski sie nannte, humanistischen Linken. Diese aber gab eben in jenen Jahren, besonders in Deutschland, die von ihr als politisch unverbindlich und als moralisierend empfundene Bindung an humanistisches Gedankengut auf zugunsten einer scheinbar eindeutigeren scharfen Einteilung der Menschen in Freund und Feind, in Ausgebeutete und Ausbeuter - grundsätzlich in zwei säuberlich getrennte politische Lager, und wer dieses Schema durchbrach, wer differenzierend die Grenzen nicht akzeptierte, indem er als Sozialist den Sozialismus kritisierte, wurde entweder aus dem Gedächtnis gestrichen oder eigenmächtig einem der beiden Lager zugeteilt, im Zweifelsfalle dem der Feinde. Hier erneuerte sich, freilich abgeschwächt und unter freiwilligem Dazutun der daran Beteiligten, jener Mechanismus, den Kołakowski nach 1956 in seinem Land als die Erpressung mit der einzigen Alternative beschrieben und kritisiert hatte, eine Erpressung, der er sich auch dort selbstverständlich widersetzte, wo sie mit den subtileren Mitteln des intellektuellen Konformismus gehandhabt wurde. Daß Kołakowskis unbeirrbarer Nonkonformismus, sein Durchkreuzen jeglicher intellektueller Moden bei uns wieder zunehmend ein positives Echo findet, ist ermutigend. Er selbst hat durch sein Schrifttum und Wirken nicht unwesentlich dazu beigetragen.
Ganz unverständlich erscheint es freilich nicht, daß man unbequeme Denker wie ihn im Zuge der Entspannungspolitik zwischen Ost und West als deplaziert empfand. Nach Jahren des kalten Krieges und eines gerade in Deutschland z.T. dubiosen Antikommunismus, der sich auch aus Überresten eines undemokratischen Bewußtseins unter umgekehrtem Vorzeichen speiste, mag dabei die Sorge vor einem Rückfall in sterile westliche Selbstgerechtigkeit eine Rolle gespielt haben. Aber genauso wie die Aussöhnung mit den demokratischen Nachbarn nach dem Zweiten Weltkrieg nicht auf der nur im Negativen einigenden Basis des Antikommunismus aufbauen durfte - sollten die geschichtlich aufgerissenen Gräben wirklich gefüllt und nicht nur notdürftig überdeckt werden -, genauso kann auch eine echte Entspannung mit den östlichen Nachbarn nur stattfinden, wenn man die vorhandenen Gegensätze, betreffen sie nun die gemeinsame Geschichte oder Fragen der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Ordnung, mit dem Willen zur Verständigung mutig und offen austrägt. Daß hier in offizieller Verantwortung stehenden Politikern und unabhängigen Denkern unterschiedliche Rollen zufallen, versteht sich von selbst. Aber Entspannung, ja selbst Versöhnung und Frieden können nicht als Zustand der Spannungslosigkeit begriffen werden, im Gegenteil: Das auf Verständigung zielende Austragen von Gegensätzen sowie der dazu gehörende Mut, die Gründe für solche Gegensätze jenseits von Opportunität und Mode zu nennen und zu analysieren, sind ein unabdingbarer Bestandteil wirklichen Friedens. In diesem Verständnis bezeugen Leben und Denken den Nonkonformisten Kołakowski als dessen hervorragenden Wegbereiter.
Leszek Kołakowskis Leben präsentiert sich zunächst als das eines politisch engagierten Philosophen, der für die Sache des Kommunismus streitet im Dienste der Befreiung seiner Gesellschaft von Armut und materieller sowie geistiger Unterdrückung. Daß er seine militante Kritik anfangs dabei vorrangig gegen die katholische Kirche richtet, die stärkste Widersacherin der kommunistischen Partei in Polen, kann nicht verwundern. In seinen Angriffen gegen sie wie gegen nichtmarxistische wissenschaftliche und philosophische Kontrahenten spart er nicht an Polemik, auch nicht an Vereinfachungen und Schematismen - wenn man die frühen Aufsätze des Anfang-Zwanzigjährigen liest, schöpft man angesichts so mancher Produkte heutiger jugendlicher Agitatoren wieder Hoffnung: Auch daraus kann sich die Philosophie eines Kołakowski entwickeln, allerdings nur, wenn der Druck der Wirklichkeit einer moralischen und intellektuellen Sensibilität begegnet, wie sie nur wenigen eignet.
Diese Sensibilität führt Kołakowski zur radikalen, rückhaltlosen Kritik an der eigenen Position in dem Augenblick, da er in der von ihm unterstützten Partei und ihrer Politik die gleichen Unterdrückungsmechanismen erkennt, die er zuvor so vehement bei der Kirche attackiert hatte. Als geistiger Promotor des Polnischen Oktober 1956 wird er so zur Symbolfigur der Revolte und der polnischen akademischen Jugend sowie der für einige Jahre in ganz Osteuropa virulenten Strömung des marxistischen Revisionismus.
Deutlich zeigt sich dabei, daß Kołakowski von vornherein ein ethisch motivierter Kommunist war, daß er in der Tradition des sogenannten ethischen Sozialismus stand und daß sein politisches Engagement nicht den Quellen der nationalen oder sozialen Feindschaft, sondern denen der positiven Solidarität mit den materiell und ideell Leidenden entsprang. Zwar können sich beide Ursprünge verbinden, aber ihre Unterscheidung ist doch für die gesamte Geschichte des Sozialismus von eminenter Bedeutung. Denn das Motiv, aus dem heraus für die Sache des Sozialismus gefochten wird - vereinfacht gesagt: aus Liebe oder aus Haß - wirkt fort in der Gestalt, in der man ihn verwirklichen will. Wo man für die vorfindliche Gesellschaft nur Verachtung und Feindschaft verspürt und den Sozialismus als das ganz andere will, dort treten auch die im Konsens oder im Kompromiß mit dieser Gesellschaft politisch agierenden Menschen prinzipiell nicht als mögliche Partner gemeinsamen Handelns, sondern nur als Gegner, ja als Feinde auf, und die soziale Umwandlung kann dann nicht auf ihren Willen Rücksicht nehmen, sondern muß ihn ausschalten, bestenfalls sich über ihn hinwegsetzen. Damit ist der Weg zur Einschränkung der Freiheit bis hin zu ihrer totalitären Vernichtung gebahnt. Der Friede eines solchen Sozialismus gerät zur Zwangsanstalt, die sich mit harmonistischem Vokabular verbrämt. Freilich ist dies ein Scheinfriede, denn die realen Konflikte sind nur verschleiert; unter der Decke geht der Kampf in härteren Formen weiter.
Kołakowski will den Sozialismus nicht aus Haß, für ihn gehören Freiheit und Sozialismus untrennbar zusammen, und der soziale Friede, jener immer nur prekäre Ausgleich der auch im Sozialismus fortbestehenden Gegensätze, soll nicht durch Zwang, sondern durch positive Solidarität, begründet in unbedingter moralischer Verantwortung, Gestalt gewinnen. Freiheit und unbedingt-verpflichtende Verantwortung stecken so das Spannungsfeld ab, in dem nicht nur der Sozialismus, sondern zudem die Kołakowskische Philosophie ihren Ort finden.
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Es ist wohl die theoretische und zugleich existentielle Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Stalinismus, die das Phänomen der Verantwortung in Kołakowskis Denken in den Rang einer philosophischen Grunderfahrung erhebt. »Unsere primäre Beziehung zur Welt«, so behauptet er, sei »als die Beziehung einer freiwillig übernommenen Verantwortung« zu deuten.[1] Und weiter: »Indem wir leben, akzeptieren wir diese Situation freiwillig, setzen wir gleichsam unseren Namenszug unter jenes fiat, kraft dessen sich die Welt in eben jener Gestalt geformt hat, in der wir sie sehen; und da jenes fiat das Ganze betrifft, bezieht es unsere Unterschrift auch auf das Ganze, aus dem einfachen Grund, weil man nicht teilweise leben kann, mithin auch die Welt, in der man lebt, die Geschichte, an der man teilnimmt, nicht teilweise wählen kann. Solcherart sind wir Schuldner an allen Stellen, an denen auf der Welt irgend etwas zurückzuzahlen ist, und alles, was verändert werden kann, betrifft uns, alle Rück- und Schuldforderungen.«[2] Wie aber sollen diese Schulden, soll der Inhalt verantwortlichen Handelns definiert und begründet werden? Hatte Kołakowski nicht, anhebend mit der Revision des stalinistischen Marxismus, einen permanenten Revisionismus postuliert, der alle Dogmen, traditionellen Wahrheiten und Werte radikal in Zweifel zog? Kommt angesichts dessen eine zugleich als total erfahrene Verantwortung nicht in die Nähe der Philosophie Sartres, für den sie ebenfalls eine Grunderfahrung darstellt, die allerdings die Grundlosigkeit, das Geworfensein, die Verlorenheit des Menschen offenbart, womit jeder materiellen Konkretisierung der Verantwortung der Boden entzogen ist? Soviel meint Kołakowski jedoch im Gegensatz zu Sartre phänomenologisch ausmachen zu können: »Der Imperativ der Verantwortung lastet nur dann wirklich auf uns, wenn wir zumindest wissen, daß überhaupt etwas einen Wert darstelle und als solcher den Gegenstand der Verantwortung, mag es auch ungewiß bleiben, an welchen Stellen der Berührung mit der Welt die Werte sich nun realisieren.«[3]
»Daß überhaupt etwas einen Wert darstelle...« - eben dies läßt sich innerhalb der Grenzen rationalen, diskursiven, historischen Argumentierens nicht begründen, dazu müssen diese Grenzen überschritten werden hin zu einer transzendenten Realität. Beginnend als militanter atheistischer Marxist, der im Zeichen der Befreiung des Menschen dessen uneingeschränkte Autonomie proklamierte, der dann zunächst die kommunistische Praxis des Marxismus, später die zentralen Bestandteile der Theorie selbst kritisierte und verwarf, weil sie statt zur Befreiung des Menschen zu seiner Knechtung beitrugen, hat Kołakowski in der Tat einen langen Weg bis zur Annahme einer transzendenten Realität zurückgelegt. Näherhin bezeichnet er diese Realität als diejenige des Mythos, soll heißen einer unbedingten Wahrheit, von der her jede bedingte, endliche Erfahrung relativiert wird und zugleich ihre Bedeutung erhält.
Daß ausgerechnet ein Philosoph, der jahrelang im Zeichen des Rationalismus gegen die Mythologisierung des Bewußtseins und der Politik gestritten hatte, den Mythos nun zu einem unverzichtbaren Bestandteil menschlicher Kultur erklärt, mußte Verwirrung stiften. In der Tat würde man Kołakowski mißverstehen, nähme man an, daß er damit das Prinzip rationalistischen Zweifels und radikaler Kritik aufgegeben hätte. Aber dieser Zweifel ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zum Aufbrechen aller geistigen und materiellen Verkrustungen, die das Zusammenleben gefährden, indem sie die Menschen in Zwänge pressen und ihre freie Kommunikation ersticken. Der Zweifel steht im Dienste menschlicher Gemeinschaft, und diese bedarf auf der anderen Seite, soll sie nicht an ihren inneren Gegensätzen zerbrechen, einer in Freiheit einigenden Bindung. Solche Bindung zu begründen, vermag allein die transzendente Realität eines Mythos, der den Menschen die Richtung für ihr Handeln weist, indem er ihnen ein außerzeitliches Modell vor Augen stellt, das die Defizienz, die organische Unzulänglichkeit des vorgefundenen Seienden verdeutlicht, jene Unzulänglichkeit, die in der unbedingten Verantwortung als Aufruf zur Tilgung des Schuldenkontos erfahren wird. Im Unterschied zu Geschichtsprojektionen oder Ordnungsvorstellungen, die ihre Geltung wissenschaftlich oder philosophisch, also immanent zu bewahrheiten behaupten und sich infolgedessen anmaßen, die Zustimmung der Menschen politisch auch mit totalitären Mitteln erzwingen zu können, bindet der Mythos die Menschen in Freiheit aneinander, da sich die Wahrheit seines außerzeitlichen, präempirischen Modells jeder immanenten Beweisbarkeit, theoretischen Verfügbarkeit und damit politischen Erzwingbarkeit entzieht. »Die Funktion des mythischen Bewußtseins besteht vor allem darin«, schreibt Kołakowski, »das Gefühl der Verpflichtung, das Bewußtsein des Verschuldetseins gegenüber dem Sein zu wecken, und dieses Bewußtsein vermag eine gegenseitige Bindung wirklicher Hilfe zwischen den Teilhabern der Schuld zu schaffen, und zwar eine gegenüber Veränderungen relativ widerstandsfähige Bindung.«[4]
Kołakowski setzt einen derartigen Mythos, der die Menschen im gemeinsamen Verschuldetsein bindet, scharf ab von solchen, die Eroberungsziele proklamieren oder die Form von Utopien annehmen, deren Inhalt in der vollkommenen Erfüllung individueller oder kollektiver Ansprüche besteht. Sie können keine wahre Solidarität stiften, denn sie geben keine Basis für die Anerkennung von Normen, die für alle Menschen verbindlich sind und alle als gleichwertige Glieder der Gemeinschaft einbeziehen. Die Absage an den zentralen marxistischen Topos des Anspruchs auf Bedürfnisbefriedigung als Grundlage allen politischen Handelns ist unüberhörbar.
Der Rekurs eines Philosophen auf eine Kategorie, die ihre inhaltliche Konkretisierung in den großen Religionen findet und deren Wahrheit und Geltung philosophisch zu begründen von vornherein als vergebliches Unterfangen abgewiesen wird, muß befremden. Verständlich und in seiner Konsequenz einsichtig wird er jedoch, wenn man ihn als Versuch deutet, im Angesicht des Endes der Metaphysik philosophisch weiterzudenken, und zwar so, daß man die traditionellen Probleme der menschlichen Existenz in ihrer gegenwärtigen Gestalt zu formulieren und zu erhellen trachtet, sie nicht in fachlicher Spezialisierung untergehen läßt. Die Frage nach einer menschenwürdigen politischen Ordnung führte in der Geschichte der Philosophie und führt auch heute über diejenige nach Ort und Ziel menschlicher Existenz hin auf die Suche nach Sinn und Sein der Welt im Ganzen und nach ihrem letzten absoluten Grund. Doch die Einsicht in die Erfahrungen ihrer Geschichte zwingt die gegenwärtige Philosophie zu dem Eingeständnis, daß der Mensch die anthropozentrische Perspektive nicht verlassen kann, daß alle Hoffnung, auf ein von der menschlichen Perspektive nicht bedingtes Absolutum philosophisch vorzustoßen, vergeblich ist. Als Weise der Vergewisserung gegenüber solchem Absoluten bleibt dann nur diejenige der religiösen Teilhabe, die Kołakowski näherhin als eine Beziehung deutet, wie sie sich in Glaube, Hoffnung und Liebe ereignet - und er weiß, in welcher Tradition er mit dieser Deutung steht. Der rationalistische Zweifel also verweist die Philosophie auf die für sie unüberschreitbare Grenze. Die Notwendigkeit jedoch, zur Konstituierung freier menschlicher Gemeinschaft die Verantwortung gegenüber einer absolut verpflichtenden Instanz und damit diese selbst anzunehmen, offenbart zugleich die Unmöglichkeit, sich bei der Einsicht in die Grenze der Philosophie zu beruhigen.
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Die (wenn auch anfänglich vorwiegend negative) Faszination, die Christentum und Religion über die Jahre hinweg auf Kołakowski ausübten, wird hier von der philosophischen Reflexion eingeholt. Religion und Christentum sind nun als unverzichtbare Bestandteile in die menschliche Kultur integriert, aber nach wie vor nicht in der ursprünglich so vehement attackierten Gestalt eines geschlossenen Dogmensystems und einer mit weltlichem Machtanspruch auftretenden kirchlichen Organisation, sondern als Horizont und zugleich adäquater Ausdruck der menschlichen Situation, ihrer inneren Widersprüchlichkeit und Konflikthaftigkeit, die aus der Teilhabe des Menschen an den zwei inkommensurablen Ordnungen des Endlichen und des Unendlichen herrührt. Das oft als widersprüchlich bezeichnete Werk des Jansenisten Pascal gibt aus christlicher Erfahrung Zeugnis von der Einsicht in diese menschliche Grundbefindlichkeit. Pascal interpretierend schreibt Kołakowski: »Das menschliche Wesen lebt gleichzeitig in beiden Ordnungen, die sich zusammen nicht annehmen lassen, von denen keine ohne weiteres liquidiert werden kann, die beide Anziehungskraft ausüben auf den Menschen und beide ihren Tribut von ihm verlangen. Es ist nicht Aufgabe eines Christen, die Integration beider Ordnungen in eine zusammenhängende Einheit zu vollenden.«[5] Die strikt anthropozentrische Philosophie Kołakowskis trifft sich mit der Erfahrung des christlichen Philosophen: Der Bereich der Endlichkeit, der autonomen Vernunft, des diskursiven Denkens in Wissenschaft und Philosophie - er kann und soll vom Menschen nicht einfach preisgegeben werden, aber er reicht nicht nur nicht aus, seine Verabsolutierung zur alleinigen und selbstgenügsamen Wahrheit raubte dem Menschen die Möglichkeit, sein Dasein als sinnhaft zu begreifen und ineins damit seine Gemeinschaft mit den anderen in freier Solidarität zu konstituieren. Beides verlangt den Rückbezug auf ein Absolutum, der eben nur in der Teilhabe am Mythos erfolgen kann.
Indem Kołakowski sich so dem christlichen Philosophen Pascal nähert, entfernt er sich zugleich von einem Denken, das ihm zunächst wohl unter allen modernen Richtungen am meisten verwandt war: dem Denken Albert Camus'. Beiden gemeinsam sind der grundlegende ethische Impetus, der Mut und die Radikalität ihres Fragens, die Einsicht in die menschliche Endlichkeit, die Ablehnung jedweden Dogmatismus und jeglichen Ausruhens auf Sicherheiten. Beide gehen auch davon aus, daß der Mensch in der Welt als ganzer philosophisch keine Ordnung, keinen absoluten Grund oder Sinn erkennen kann. Da Camus jedoch vom Menschen fordert, nur mit dem zu leben, was er weiß, und sich auf nichts zu stützen, was ihm nicht gewiß ist - hier wird der Einfluß der cartesianischen Tradition deutlich -, folgt für ihn aus der Nichterkennbarkeit einer Ordnung oder eines Sinnes der Welt im Ganzen die Überzeugung von ihrer Absurdität. Diese Überzeugung enthält als »erste und einzige Evidenz«[6] den Aufruf zur Revolte, d. h. zur Verpflichtung, sich im Angesicht des Absurden ohne Rekurs auf Transzendenz für die Verwirklichung unbedingter Werte einzusetzen. Kołakowski dagegen hält trotz aller Hochachtung vor dem Mut, die Überzeugung von der Absurdität der Welt und damit von der eigenen Existenz konsequent durchzustehen, eine solche Haltung auf Dauer nicht für realisierbar. Sie zwingt den Menschen nicht nur in die alternative Wahl zwischen Verzweiflung und Zerstreuung, sondern entzieht ihm darüberhinaus jegliche Begründungsmöglichkeit für die inhaltliche Bestimmung der ihn unbedingt verpflichtenden Verantwortung. Unbedingtheit und absurde Grundlosigkeit sind unvereinbar. Nur mit dem zu leben, was man in Philosophie und Wissenschaft weiß, ist uns nicht möglich die Teilhabe am Mythos gehört zu unserem Dasein.
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Wissenschaft und Mythos aber stehen wie die beiden Ordnungen, die sie repräsentieren, nicht indifferent oder ergänzend zueinander. Beider Weisen, sich ihrer jeweiligen Wahrheit zu versichern, haben die Tendenz, sich für alleinberechtigt zu erklären und den Menschen restlos zu beanspruchen. Die Teilhabe am Mythos geschieht in einem Akt des Glaubens ohne Bedürfnis nach argumentativer Rechtfertigung und droht so, zu irrationaler Übermächtigung zu degenerieren, die Wissenschaft ihrerseits verlangt, nur das als Wahrheit anzuerkennen, was ihrer diskursiven und empirischen Überprüfung standhält. Ohne Möglichkeit der gegenseitigen Zu- oder Unterordnung stellen sie einander in Frage, wehren ihre jeweiligen absoluten Wahrheits- und Geltungsansprüche gegenseitig ab und bezeugen somit jene unaufhebbare Konflikthaftigkeit, Unsicherheit, Offenheit und Unvollendbarkeit des Menschen, die ihren Ursprung seiner Teilhabe an den beiden Ordnungen - der Endlichkeit und der Unendlichkeit - verdanken. Diese Ordnungen setzen sich in immer neuen Varianten antagonistischer Tendenzen im Menschen fort - in seiner animalischen Trägheit, in seinem Bedürfnis nach Anpassung einerseits und in seinem Streben, die Welt des Gegebenen in Frage zu stellen und zu transzendieren anderseits; in der Angst vor sich selbst, im Bedürfnis nach Integration und Schutz einerseits und in der Angst, sich seiner Individualität zu begeben, im Bedürfnis nach individueller Entfaltung und Expression anderseits; in dem Verlangen nach Gemeinschaft und Solidarität einerseits und im Bedürfnis nach Selbstkonstitution und nach Entwicklung der eigenen Potenzen anderseits.
Dem Philosophen nun fällt die wichtige Aufgabe zu, diese menschliche Grundsituation in ihren immer neuen Gestalten zu erhellen und in Erinnerung zu rufen, alle Verfestigungen aufzubrechen, die die Offenheit der existentiellen Möglichkeiten zu verriegeln drohen, alle Einseitigkeiten und Verhärtungen zugunsten der Toleranz gegenüber unterschiedlichen Positionen aufzulösen, alle möglichen oder geschichtlich realisierten Perspektiven nicht etwa in eine geschlossene, endgültige Synthese zu bannen, sondern in ihrer weltanschaulichen Verschiedenheit und Partikularität nachzuvollziehen und verständlich zu machen und so dazu beizutragen, daß man sich anderem, fremden Denken gegenüber offenhält.
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Dazu schlüpft der Philosoph - dieser Philosoph - nicht selten in das Gewand des Narren. Mit den Mitteln der Groteske, der Satire und der ironischen Distanznahme, auch von dem, was ihm selbst heiliger Ernst ist, zwingt Kołakowski dazu, die eigene Perspektive zu relativieren, deckt er zugleich mit unerbittlichem Sarkasmus auf, wo eitles Gerede und hohle Phrase eine scheinbar uneinnehmbare Bastion aufrichten, die jede echte Kommunikation verhindert. Kołakowskis Denken prägt so auch die Art seines literarischen Schaffens. Es drängt ihn immer wieder, die Form strengen Räsonierens zu durchbrechen, der unerschöpflichen Vielfalt der Wirklichkeit durch die Verschränkung von Phantasie und Realität, durch die Verfremdung der Alltäglichkeit ins Groteske Tribut zu zollen. So wenn er die Erörterung der menschlichen Grundsituation in das Wartezimmer eines Zahnarztes verlegt und das Problem der Gerechtigkeit anhand einer bunten Palette ganz und gar uneinsichtiger Ordnungskriterien für das Karteikartensystem exemplifiziert, das die Sprechstundenhilfe verwendet, um die Reihenfolge der aufzurufenden Patienten festzulegen. Oder wenn er das Verhältnis von Ethik und Politik am Beispiel der Aufgabe Noahs, das Menschengeschlecht neu zu begründen, ironisch dramatisiert und daraus die Moral zieht: »Denken wir daran, daß wir uns zuweilen den Mächtigen liebedienerisch unterwerfen und die eigenen Genossen für sie verraten dürfen - aber nur dann, wenn wir mit absoluter Sicherheit wissen, daß das die einzige Möglichkeit ist, die ganze Menschheit zu retten. Bisher war Noah der einzige, der vor einem solchen Dilemma stand.«[7]
Aus dem geographisch nicht mehr auffindbaren Königreich Lailonien berichtet Kołakowski von krankhaften Buckeln, die den Menschen, aus denen sie herauswachsen, ihre Existenzberechtigung absprechen; von dem Bäckerlehrling Nino, der sein schönes Gesicht im Koffer verschließt, um es vor der Unbill der Zeit zu bewahren, und der doch nicht verhindern kann, daß arglose Kinder es für einen Ball halten und beim Fußballspiel bis zur Unkenntlichkeit zertreten; oder von den Brüdern Ubi und Obi in der Stadt Ruru, die ihren Unterhalt mit der Herstellung von Kautschukkugeln verdienen, die sich zu nichts gebrauchen lassen. »Die Einwohner von Ruru« aber, so erklärt der Philosoph, »kauften diese Kautschukkugeln gerade deshalb so gern, da sie sich vor den anderen ihres Reichtums rühmen konnten. Reichtum war in dieser Stadt nämlich daran zu erkennen, daß man viel unnütze Dinge besaß. Damit sich aber niemand mit der Suche unnützer Dinge quälen müsse, wurde ein für allemal bestimmt, daß alle, die ihren Reichtum zeigen wollten, Kautschukkugeln speichern sollten. So gab es in der Stadt viele Handwerker, die ausschließlich Kautschukkugeln für die Reichen herstellten.«[8] Ja selbst über das ihn so zentral beschäftigende Problem der Existenz des Bösen in der Welt und der ontologischen Bestimmung des Verhältnisses von Gut und Böse spekuliert Kołakowski in z.T. satirischem Gewand. Im Stenogramm einer metaphysischen Pressekonferenz, die der Dämon am 20. 12. 1963 in Warschau abgehalten hat, polemisiert der Teufel sarkastisch gegen alle Modernisten, die seine Existenz leugnen wollen, weil sie nicht mehr wagen, ihn beim Namen zu nennen, wobei er gegenüber seinen Zuhörern von vornherein klarstellt, daß ihn dies im übrigen im Grunde völlig kalt lasse, weit seine Existenz davon selbstverständlich unberührt bleibe. Wie ein brillantes, phantasievolles Feuerwerk läßt Kołakowski hier eine Vielzahl möglicher und bisher gedachter Fragen und Antworten zur menschlichen Grundsituation förmlich auf uns niederprasseln.
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Alle Versuche einer geistigen Verfügung über den Menschen, seiner Einkerkerung in ein begriffenes System werden dabei in einen Wirbel von Zweifeln gezogen und ad absurdum geführt. Der Mensch bleibt im Spannungsfeld unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Ordnungen und Forderungen, er kann sich keiner von ihnen anheimgeben und gewinnt gerade dadurch seine Freiheit. Denn seine organische Unvollendbarkeit und Offenheit ermöglichen ihm, die ihn herausfordernden konflikthaften Ansprüche immer wieder neu und schöpferisch zu beantworten. Dank dieser Aktivität vermag er sich überhaupt erst als eine lebendige, nicht auf eine fertige Sache oder eine Funktion reduzierbare Persönlichkeit zu konstituieren. Ja mehr noch: Die schöpferische Expression - jeder Ausdruck praktischen Handelns, aber auch der Sprache, Musik, Malerei, Gestik - bietet allererst das Medium, in dem die Menschen einander personal begegnen, d. h. den anderen in der ihm eigenen Expression als unersetzbaren Wert erfahren können, eine Erfahrung, die umgekehrt nur erlaubt, sich selbst als werthafte Person zu begreifen.
Solche in Freiheit, Offenheit und Unvollendbarkeit begründeten personalen Beziehungen zwischen den Menschen werden zwar infolge der die Freiheit gebärenden Widersprüchlichkeit menschlicher Existenz nie zu einem Zustand der Harmonie verschmelzen. Und auch ein Friede, mit dem die verführerische Vorstellung endgültiger Harmonie und Ruhe verbunden würde, findet in Kołakowskis Philosophie daher keine Rechtfertigung. Aber die Einsicht in die Relativität und Perspektivität aller menschlichen Ansprüche, nicht zuletzt aller politischen und sozialen Entwürfe, entzieht jener Hybris, jener Anmaßung den Boden, die auch in der Gegenwart so häufig das Recht sich zuspricht, die eigenen politischen Absichten ohne Achtung vor der Freiheit des Andersdenkenden mit Gewalt durchzusetzen. Und indem sie der Gewalt ihre theoretische Legitimation entwindet, eröffnet sie den Raum für die Durchsetzung wirklichen Friedens: einer Regelung der sozialen Beziehungen, dank derer die Freiheit der Menschen und ihre gegenseitige personale Begegnung und Würdigung in der Absage an Gewalt und Fanatismus durch die rechtliche Eingrenzung - nicht die illusionäre Abschaffung - politischer, sozialer und ökonomischer Herrschaft gesichert werden. Der Friede, den eine entsprechende Gesellschaftsverfassung gewährleisten könnte, wäre dann nichts Statisches, sondern unaufhörliche Bewegung, Auseinandersetzung, schöpferisches Mühen um das Durchstehen und Austragen von Konflikten im Bewußtsein der gemeinsamen Bindung und Verpflichtung aller Menschen gegenüber Werten, die ihre Geltung einer transzendenten Realität verdanken. In diesem Verständnis kann er als Angelpunkt des gesamten Kołakowskischen Denkens und Wirkens gelten. Das ist kein geruhsamer, kein bequemer Friede, aber wohl der einzig mögliche und menschliche - Leszek Kołakowski mag hinzufügen: der einzig lebendige und interessante Friede.
[1] Ethik ohne Kodex, in: Leszek Kołakowski, Traktat über die Sterblichkeit der Vernunft. Philosophische Essays. München 1967, S. 90.
[2] ebd. S. 91.
[3] ebd. S. 100.
[4] Leszek Kołakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos, polnisches Manuskript S. 125; im Wortlaut von der vorliegenden Übersetzung etwas abweichende deutsche Fassung von Peter Lachmann, in: Die Gegenwärtigkeit des Mythos. München 1973, S. 127.
[5] Leszek Kołakowski, Die Banalität Pascals, in: Geist und Ungeist christlicher Traditionen. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1971, S. 66.
[6] Albert Camus L'homme révolté. Paris 1951, S. 21.
[7] Leszek Kołakowski, Der Himmelsschlüssel. Erbauliche Geschichten. München 1965, S. 20.
[8] ebd. S. 158.
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Gesine Schwan
Laudatio
Auf unsicherem und sumpfigem Boden schreitend, irregehend, zurückkehrend, hier und dort herumkreisend, verfügen wir, um geistig zu überdauern, über wenige zuverlässige Orientierungszeichen, die sich alle auf einfache, längst bekannte Gebote und Verbote zurückführen lassen, worunter auch diese sind: Kampfbereitschaft ohne Haß, Versöhnlichkeitsgeist ohne Zugeständnisse im Wesen.
Leszek Kołakowski - Dankesrede
Leszek Kołakowski
Erziehung zum Haß, Erziehung zur Würde
Dankesrede
Diese ehrenvolle Auszeichnung stellt mich in eine Reihe mit Menschen, angesichts deren ich natürlich vor Hochmut strotze und zugleich von einem gewissen Unbehagen ergriffen bin. Es gibt in dieser Reihe Persönlichkeiten, denen wir als geistigen Wegweisern besonders dankbar sein müssen. Denken wir an Albert Schweitzer, Martin Buber, Karl Jaspers, Sarvepalli Radhakrishnan, Janusz Korczak - um nur einige von denen, die nicht mehr leben, zu erwähnen -, dann richtet sich unsere Dankbarkeit an sie vornehmlich deshalb, weil sie uns lehrten, wie man, ohne den Kampf zu vermeiden, zugleich vom Haß völlig frei bleiben, auf die Sprache des Hasses verzichten kann. Und die Sache des Hasses ist es, der ich ein paar Worte widmen möchte.
Wenn ich auch keine aktuell politischen Themen direkt zur Sprache bringen will, kann ich mich als Pole, der von deutschen Freunden so ausgezeichnet worden ist, nicht des Gedankens und der Aussage enthalten, daß jede Gelegenheit gut ist, um die Sache der deutsch-polnischen Versöhnung zu fördern, und dies nicht nur im negativen Sinne, das heißt nicht nur, um die Masse des historisch angehäuften Hasses zwischen unseren Völkern abzutragen; ich halte den Begriff Mitteleuropas als eines kulturell zusammengehörigen Gebietes gar nicht für veraltet, ich wage zu glauben, daß die Herstellung eines solchen dominationsfreien kulturellen Bereichs sowohl möglich als auch wünschenswert ist, ja daß sie für das Geschick Europas entscheidend sein kann. Auch daran denke ich, indem ich einige abstrakte Bemerkungen über das Phänomen des Hasses mache.
Daß die Welt ohne Haß wünschbar sei, ist eine in dem Sinne wenig ergiebige Losung, als man kaum jemanden findet, der ihr nicht zustimmte, was leider schon zeigt, daß diese Losung an sich, ohne nähere Erklärung, von geringem Wert ist.
Daß aber eine solche Welt, wenn überhaupt, nur durch den jetzt frei von Haß geführten Kampf möglich wird oder, mit anderen Worten, daß sie desto wahrscheinlicher ist, je weniger Haß in die heutigen Konflikte eingeht, gilt mitnichten als offenbar. Erscheinen doch so gut wie alle Formen der Haßpropaganda als Mittel, die brüderliche Weltgemeinschaft zu errichten, und der Haß gegen das Böse (oder was jeweils als das Böse bezeichnet wird) macht den Hassenden automatisch heilig, als ob es sich um ein Beispiel des logischen Gesetzes der doppelten Negation handelte: wer den haßt, der das Heilige haßt, ist heilig. Daß der Haß, ungeachtet seines Gegenstandes, das Böse erzeugt, klingt sogar ridikül. Wer an die einfachen Worte Spinozas »der Haß kann nie gut sein« erinnert, wer das kurze Gebot des heiligen Paulus aus dem Römerbrief wiederholt: »Überwinde das Böse durch das Gute« (Röm. XII, 21) riskiert, sich als naiver Prediger lächerlich zu machen oder sogar als Gegner der besseren Welt den Haß zu verdienen.
In diesem Zusammenhang wiederhole ich Prinzipien, die wir als Extrakt nicht nur des Besten, sondern auch des Unentbehrlichsten und Unveränderlichsten in den moralischen Lehren vieler großer religiöser Propheten und vieler großer Philosophen betrachten dürfen: Daß es kein Recht auf Hassen gibt, ungeachtet der Umstände;
daß es widersinnig ist zu sagen, daß jemand den Haß verdient;
daß wir fähig sind, ohne Haß zu leben;
daß auf den Haß zu verzichten keineswegs bedeutet, auf den Kampf zu verzichten;
daß jedes Recht zum Unrecht wird, sobald es sich durch Haß zu befestigen versucht, oder - was auf das Gleiche hinausläuft - daß es selbstzerstörerisch ist, den Haß für die Sache der Gerechtigkeit einzuspannen.
Das sind althergebrachte Gedanken, von denen einige offensichtlich Werturteile, andere aber Erfahrungstatsachen darstellen. Es ist freilich möglich, dagegen sowohl moralische als auch faktische Argumente vorzubringen. Diese können zu drei Hauptgedanken zusammengefaßt werden: erstens, der Haß ist naturwüchsig, also unvermeidlich; zweitens, der Haß ist wirksam in jedem Kampf, also auch im Kampf um Gerechtigkeit; drittens, der Haß kann moralisch gerechtfertigt sein, es gibt hassenswürdige Menschen und Dinge.
Diese Argumente fordern eine Antwort heraus.
Zum ersten. Es ist wohl möglich, daß der Haß in demselben Sinne wie alle elementaren Leidenschaften naturwüchsig ist. Sollte dies bedeuten, daß niemand fähig ist, ohne Haß zu leben, würde diese Aussage erfahrungsgemäß gewiß falsch sein; wie wenige es auch seien, die sich nie vom Haß leiten lassen, es gab und gibt sie in unserer Welt. Falls dieser Satz aber besagt, daß die Mehrheit, ja sogar die überwiegende Mehrheit von uns zu schwach ist, um sich vom Haß zu befreien, dann mag das wohl wahr sein, ist aber für die moralische Bewertung des Hasses irrelevant und macht das Gebot, ohne Haß zu leben, keineswegs weniger gültig. Alle moralischen Gebote sind gewissermaßen naturwidrig, sie wären ja überflüssig, wenn ihre Aufgaben ohnehin völlig durch die Instinkte erfüllt würden. Daß so viele von uns im Bösen leben, macht keinen einzigen von uns weniger böse, wenn es im übrigen auf der anderen Seite gewiß ist, daß wir imstande sind, unsere naturwüchsigen Leidenschaften zu zügeln. Wir wären sicher in einer schlimmeren Lage, wenn wir der Lutherschen Meinung zustimmten, nach der uns Gott Gebote gibt, denen wir überhaupt nicht nachkommen können, nach der also Gott von uns Leistungen verlangt, die ganz einfach unausführbar sind. Sobald wir feststellten, daß das moralische Gesetz unsere Fähigkeiten grundsätzlich überschreitet, müßten moralische Unterschiede zwischen den Menschen fast verschwinden, wie sehr wir uns auch auf das göttliche Erbarmen verlassen. Der Lutherschen Verzweiflung möchte ich das Kantsche Prinzip entgegenstellen: Wenn wir wissen, daß wir etwas nach moralischem Gesetz tun sollen, wissen wir auch, daß wir es tun können; ja nur daraus, daß wir es tun sollen, erfahren wir, daß wir es auch können, obwohl wir nicht notwendig wissen, ob wir unsere Pflicht tatsächlich im Moment der Prüfung erfüllen werden. Ob die Welt ohne Haß überhaupt möglich ist oder ob es natürliche Ursachen gibt, die sie ausschließen, darüber haben wir kein sicheres Wissen. Falls wir aber die Vorwegnahme einer solchen Welt nicht ernst nehmen, falls wir also überzeugt sind, daß der Haß auf Erden nie getilgt werden kann, so rechtfertigt dies unseren eigenen Haß, das heißt jenen, der in jedem von uns brodelt, nicht. Das Böse muß auf der Welt sein; wehe aber dem, durch den es kommt - auch diese Warnung gehört zu den härtesten Ziegeln im Gebäude der christlichen Zivilisation. Ohne sie, das heißt ohne die Überzeugung, daß die Statistik des Bösen das Böse in mir nicht entschuldigt, wäre der Begriff der Verantwortung eitel und überflüssig.
Wenn es also unleugbar ist, daß der Haß den Haß gebiert, ist dies eine Naturtatsache, nicht aber eine Zwangsnotwendigkeit, der wir uns ebensowenig widersetzen könnten wie der Tatsache, daß die freigelassenen Körper niederfallen, anstatt sich emporzuheben. Fragt also jemand: »Können wir erwarten, daß die Opfer von Himmler oder Beria ihre Henker nicht hassen, daß Menschen, die gefoltert, erniedrigt, ihrer Freiheit, ihrer Würde, ihrer elementaren Rechte beraubt werden, vom Haß gegen ihre Folterer und Unterdrücker frei seien, daß sie alle Jesus Christus nachahmen könnten?«, dann würde ich sagen: »Nein, so etwas erwarten dürfen wir nicht.« Dennoch bleibt die Frage offen, ob wir auf den Haß sogar in solchen unmenschlichen und ungeheuerlichen Umständen ein Recht haben, ob unser Haß, wie sehr er auch natürlich und erwartet sein mag, auch moralisch legitim ist, kurz ob es sich um Menschen handelt, die den Haß verdienen.
Nun scheint es, daß man streng genommen den Haß ebensowenig verdienen kann wie die Liebe. Weder er noch sie können aus der Gerechtigkeit abgeleitet werden. Verdienen kann man etwas nur kraft eines Gesetzes, kein Gesetz aber kann die Liebe verlangen, aufdrängen oder erzwingen; also auch nicht den Haß. Beide werden umsonst, ohne gesetzliche Gründe gegeben.
Gibt es aber nicht - darf man fragen - Menschen, Sachen, Bewegungen, Systeme, die gerechterweise die völlige Zerstörung verdienen, und ist der Haß nicht dem Streben nach vollständiger Vernichtung gleichbedeutend? Darauf würde ich so antworten: Es gibt gewiß menschliche Einrichtungen, Institutionen, Gewohnheiten, Bestrebungen, Bewegungen, politische Systeme, Vorstellungen, vielleicht auch Menschen, die die Zerstörung verdienen. Der Haß gleicht aber nicht dem Begehren nach Zerstörung (geschweige denn der Überzeugung, daß etwas Zerstörung verdiene). Unser Haß ist gegen Menschen und menschliche Gruppen - gegen Völker, Rassen, Klassen, Parteien, gegen Reiche oder gegen Arme, gegen Schwarze oder Weiße - nicht gegen Abstrakta wie politische Systeme und Meinungen gerichtet. Odium peccati, der Haß auf die Sünde, ist eine Metapher: Wir können nur die Sünder, darunter vielleicht uns selbst, hassen. Haß ist mehr als Streben nach Vernichtung: Wie die Liebe schließt er eine Art von Unendlichkeit ein, die Unersättlichkeit. Er strebt nicht einfach nach Zerstörung, sondern nach nie aufhörendem Leiden, gleicht also dem Begehren, zum Teufel zu werden, und das Wesen des Teufels besteht darin, nie Sättigung im Zerstörungswerk erreichen zu können.
Damit aber antworten wir zum Teil auch auf die zweite Frage: Kann der Haß je im Dienst einer guten Sache wirksam und in diesem Sinne heilig sein? Daß sich als Antwort ein eindeutiges >Nein< aufdrängt, ersehen wir, wenn wir die Ergänzungsfrage stellen: Warum brauchen alle totalitären Systeme den Haß als unerläßliches Werkzeug? Sie brauchen ihn nicht nur, um sich der erwünschten Mobilisierungsbereitschaft zu versichern, und nicht nur, ja nicht einmal hauptsächlich, um menschliche Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und die angehäufte Aggressivität zu kanalisieren, gegen andere zu lenken und dadurch in eine eigene Waffe umzuschmieden. Nein, das Bedürfnis nach Haß ist dadurch zu erklären, daß er den Hassenden innerlich zerstört, ihn moralisch hilflos dem Staat gegenüber macht, daß er einer Selbstvernichtung, einem geistigen Selbstmord gleicht und damit auch die Wurzel der Solidarität unter den Hassenden selber ausreißt. Der Ausdruck >blinder Haß< ist pleonastisch, es gibt keinen anderen. Da er, mindestens in vollkommener Form, den gesamten geistigen Raum des Menschen - auch darin der Liebe ähnlich - erfüllt, konnte der Haß als ein Mittel zur Integration der Persönlichkeit erscheinen. Daß das Umgekehrte der Fall ist, verweist zum einen auf die Asymmetrie von Haß und Liebe und enthüllt zum anderen den Grund, warum kein Totalitarismus auf die Erziehung zum Haß verzichten kann. Gerade weil die pure Negativität des Hasses jeden menschlichen Verkehr paralysiert, zerschlägt sie auch den inneren Zusammenhalt der Persönlichkeit und ist deshalb als Mittel, die Menschen geistig zu entwaffnen, unersetzlich. Unsere innerliche Integration entsteht aus dem Verkehr mit anderen, aus Vertrauen und Freundschaft, nicht aus der auf sich selbst gerichteten, monadisch in sich geschlossenen Leere des Ichs. Die allverzehrende Energie des Hasses macht Jeden Verkehr unmöglich, und dadurch desintegriert sie mich seelisch, noch bevor ich fähig bin, >meinen< Feind zu desintegrieren. In diesem Sinne darf man sagen, daß im Haß leben heißt: im Tod leben; und daß ein den Geist dauernd beherrschender Haß sich in etwas wie doppelt entartete selbst-nekrophilitische Leidenschaft umwandelt. Totalitäre Systeme und Bewegungen jeder Prägung brauchen den Haß weniger gegen äußere Feinde und Bedrohungen als vielmehr gegen die eigene Gesellschaft; weniger, um die Kampfbereitschaft zu wahren, sondern mehr um diejenigen, die sie zum Haß erziehen und aufrufen, innerlich zu entleeren, geistig kraftlos und dadurch widerstandsunfähig zu machen. Die unaufhörliche, lautlose, aber klare Botschaft des Totalitarismus sagt: »Ihr seid perfekt, jene sind vollkommen verdorben. Ihr würdet schon längst im Paradies leben, hätte die Bosheit eurer Feinde euch nicht daran gehindert.« So ist die Aufgabe dieser Erziehung weniger, eine Solidarität im Hassen zu schaffen, als vielmehr eine Selbstgefälligkeit in den Zöglingen zu erzeugen und sie moralisch und intellektuell ohnmächtig zu machen. Die Selbstgefälligkeit im Hassen soll mir das Gefühl geben, daß ich ein glücklicher Besitzer absoluter Werte bin. So gipfelt der Haß schließlich in einer grotesken Selbstvergöttlichung, die wie bei den gefallenen Engeln nur die Rückseite der Verzweiflung darstellt.
Wenn wir wirklich lieben, sind wir gegenüber dem Gegenstand unserer Liebe unkritisch. Wenn wir wirklich hassen, sind wir sowohl gegenüber uns selber, als auch dem Gehaßten gegenüber unkritisch, denn kritisch zu sein, heißt differenzieren zu können, und der Haß macht uns zu jeder Differenzierung unfähig. Er stellt unsere totale und beziehungslose Rechtmäßigkeit der totalen, beziehungslosen und unheilbaren Niederträchtigkeit der anderen entgegen.
Das ist also die Geheimwaffe des Totalitarismus: Das ganze geistige Gewebe der Menschen mit dem Haß zu vergiften und sie dadurch ihrer Würde zu berauben. In meiner Zerstörungswut bin ich selbst zerstört, in meiner Selbstgefälligkeit, in meiner Unschuld kann meine Würde nicht gerettet werden; sowohl meine Integrität als auch die Kommunikation und die Solidarität mit anderen gehen verloren. Es gibt kaum so etwas wie Solidarität im Hassen, die Hassenden werden nicht Freunde dadurch, daß sie einen gemeinsamen verhaßten Feind haben. Außer in den Momenten des direkten Kampfes sind sie auch gegenseitig fremd oder feindselig. Es gibt kaum Gesellschaften, worin es mehr von unterirdischem aber auch offenbarem Haß und Neid siedete, als jene, die ihre Einheit auf Haß zu bauen versuchen und die versprechen, die Brüderlichkeit zu institutionalisieren. Und zu sagen, daß der Haß mit Haß zurückgezahlt werden soll, heißt zu sagen, daß man, um im gerechten Kampf zu siegen, zuerst die Gründe für die Gerechtigkeit des eigenen Kampfes verlieren muß. Es ist gar nicht plausibel, daß wir ohne Haß im Kampf kraftlos sind; die Kraft im Kampf kommt viel weniger vom eigenen Haß und viel mehr von der Feigheit des Gegners. Unsere Feigheit ist auch unser Hauptfeind, und auf Haß und Fanatismus zu verzichten, heißt gar nicht, sich vom Kampf zurückzuziehen. Es mag wohl sein, daß viele von uns unfähig sind, sich ihrer Feigheit auf anderem Wege als durch Fanatismus und Verblendung zu entledigen. Wenn man aber daraus den Schluß zieht, daß man den Haß für den erfolgreichen Kampf mobilisieren muß, stellt man sofort jede Gültigkeit dieses Kampfes in Frage. Die Erziehung zur Demokratie ist die Erziehung zur Würde, und das setzt beides untrennbar voraus: sowohl die Bereitschaft zum Kampf als auch die Freiheit vom Haß. Eine Freiheit vom Haß, die nur durch die Flucht vor den Konflikten erreicht wird, ist eine scheinbare Tugend, wie die Keuschheit eines Kastraten. Allen menschlichen Konflikten ist aber ein natürlicher selbst-antreibender und selbst-anhäufender Mechanismus eigen: Nichts ist gewöhnlicher und trivialer, als daß ein an sich unbedeutender Konflikt zur tödlichen Feindseligkeit anwächst, weil die Weise, ihn zu behandeln, neue und immer schärfere Konflikte erzeugt. Versöhnlichkeit und Kompromißbereitschaft ohne Feigheit und ohne Konformismus, die Fähigkeit, den Überschuß der Feindseligkeit zu beseitigen, ohne Zugeständnisse in dem zu machen, was man als Kern der Sache betrachtet - das ist gewiß eine Kunst, die niemandem als Naturgabe zwanglos zukommt. Von unserer Fähigkeit, uns diese Kunst anzueignen, hängt aber das Geschick der demokratischen Weltordnung ab.
Zwei Hauptformen der Erziehung stehen einander gegenüber: Man darf sie schematisch als calvinistische und jesuitische Erziehungsmethoden bezeichnen. Auf die historische Genauigkeit dieser Namen - die heute gewiß anachronistisch klingen - will ich keinen Nachdruck legen. Es kommt vielmehr darauf an, auf zwei entgegengesetzte Theorien der menschlichen Natur hinzuweisen, von denen jede ihre besondere erzieherische Regel nahelegt. Die calvinistische Doktrin geht davon aus, daß unsere Natur hoffnungslos verdorben ist und daß die Erlösung ganz von der umsonst gegebenen, unverdienten und - für das menschliche Auge - irrational erteilten Gnade abhängt; die Erziehung kann ebensowenig den Verdammten aus dem Abgrund der Verdammnis herausholen, wie den zum Ruhm Bestimmten herabstürzen. Darum besteht die Aufgabe der Erziehung eigentlich nicht darin, den Menschen auf dem Wege zur Erlösung zu helfen, vielmehr darin, durch Zwang die Menge der Gott verletzenden Taten zu vermindern, nur um Gottes, nicht um der Menschen willen. Die Rigidität der unwiderruflichen doppelten Vorherbestimmung macht erzieherische Anstrengungen entweder aussichtslos oder überflüssig. Die totale Verdorbenheit unserer Natur macht diese teuflisch und hassenswert. Das Bedürfnis, äußere Sündhaftigkeit in Zucht zu halten, läßt alle Mittel zu. Umgekehrt setzt die jesuitische Philosophie sowohl voraus, daß niemand auf Erden absolut und hoffnungslos verdorben ist, als auch, daß alle natürlichen Triebe und Energien etwas Gutes enthalten und zum Guten gelenkt werden können, so daß die übernatürliche Hilfe immer etwas findet, woran sie anknüpfen kann. Wie wohl dieser Grundsatz - wie alle lebensfördernden Grundsätze - mißbraucht werden konnte und tatsächlich wurde, so schließt er doch, glaube ich, eine im wesentlichen wohlwollende Gesinnung den Menschen gegenüber ein. Er ermutigt uns, die Hoffnung auf Verständigung mit anderen Menschen solange wie möglich nicht aufzugeben; er hindert uns, mit Sicherheit überzeugt zu sein, daß jemand das reine Böse verkörpert; er schwächt also die Bereitschaft zum Haß ab.
Das Phänomen des Hasses hat drei Dimensionen: die moralische, die politische, die religiöse. Ich wollte nur meine Auffassung betonen, daß die moralische und die politische Seite des Hasses einander nicht widersprechen, das heißt, daß es keinen Fall gibt, in dem der Haß, zwar moralisch verurteilt, zugleich aber als politisch nützliches Mittel empfohlen werden kann, um einer Welt frei von Haß den Weg zu bahnen; das Mittel heiligt den Zweck. Die religiöse Überlieferung aber, zumindest in unserem Kulturkreis, verlangt mehr als die bloße Forderung, auf Haß zu verzichten: Wir sollen überdies unseren Verfolgern Gutes erweisen, für unsere Feinde beten. Muß so ein naturvergewaltigender Anspruch als allgemein bindend gelten? Darauf kann man nur das Banalste sagen: Daß es nur sehr wenige gibt und je geben wird, die dieser Anforderung wirklich gewachsen sind, ist sicher; auf den Schultern dieser wenigen ruht aber das Gebäude unserer Zivilisation, und das Geringe, wozu wir fähig sind, verdanken wir ihnen.
In allen Gefilden der menschlichen Welt, sowohl denen, die einen hortus deliciarum, als auch jenen, die mehr eine Strafkolonie in Erinnerung bringen, scheinen die aufeinanderstoßenden, sich gegenseitig anspornenden, haßgeladenen Ansprüche und Ressentiments uns in jedem Moment mit allvernichtender Explosion zu bedrohen; auf der anderen Seite verspricht uns unsere Gleichgültigkeit oder Flucht vor den Spannungen nur eine milde, stufenweise, fast unbemerkbare Apokalypse; wir suchen eine geheime Alchemieformel für das Fegfeuer, für ein Feuer, das reinigt und das den Schmerz nur mit Hoffnung bringt. Niemand darf prahlen, so eine Formel entdeckt zu haben, und doch ahnen wir vage, daß wir uns nicht gänzlich vergebens bemühen, wenn wir sie in unserer philosophischen und religiösen Tradition aufstöbern wollen. Auf unsicherem und sumpfigem Boden schreitend, irregehend, zurückkehrend, hier und dort herumkreisend, verfügen wir, um geistig zu überdauern, über wenige zuverlässige Orientierungszeichen, die sich alle auf einfache, längst bekannte Gebote und Verbote zurückführen lassen, worunter auch diese sind: Kampfbereitschaft ohne Haß, Versöhnlichkeitsgeist ohne Zugeständnisse im Wesen.
In einer von Haß, Rachgier und Neid erfüllten Welt, die - weniger durch die Armut der Natur als durch unsere gargantueske Gefräßigkeit - uns enger und enger scheint, ist der Haß eines von jenen Übeln, von denen es plausibel ist zu sagen, daß sie durch keinerlei institutionelle Maßnahmen verdrängt werden können. In diesem Fall, so dürfen wir ohne Lächerlichkeit vermuten, trägt ein jeder von uns, indem er dieses Übel in sich begrenzt, dazu bei, es in der Gesellschaft zu begrenzen, und vollbringt so in sich eine unsichere und brüchige Vorwegnahme eines erträglicheren Lebens auf unserem Narrenschiff.
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Leszek Kołakowski
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1977
+++ In der Tschechoslowakei wird Anfang Januar 1977 die Bürgerrechtsbewegung »Charta 77« gegründet. Sie veröffentlicht eine gleichnamige Resolution, in der die Regierung aufgefordert wird, die Menschen- und Bürgerrechte zu respektieren. Unter den Wortführern der Bewegung befinden sich der ehemalige Außenminister Jiri Hájek und der Schriftsteller Václav Havel. Sie werden immer wieder zu stundenlangen Polizeiverhören vorgeladen. +++ Ende Januar wird der Demokrat James Earl »Jimmy« Carter als 39. Präsident der USA vereidigt. +++
Frankreich entlässt Ende Juni seine letzte afrikanische Kolonie, Dschibuti, in die Unabhängigkeit. Stephen Biko erliegt am 12. September in Südafrika den Folgen von Folterungen und Misshandlungen durch die Polizei. Bei der größten Polizeiaktion in der Geschichte Südafrikas werden im Oktober mehrere oppositionelle Organisationen verboten und zahlreiche Schwarzen-Führer verhaftet. +++ Im April siedelt der Schriftsteller Reiner Kunze, der in der DDR starken Repressionen ausgesetzt war, in die Bundesrepublik über. +++ Im Juni erhält der Schauspieler Manfred Krug, der aufgrund seiner öffentlichen Kritik an der Ausbürgerung Wolf Biermanns zunehmend Repressalien ausgesetzt war, die Ausreisegenehmigung. +++ In der Bundesrepublik erreicht im »Deutschen Herbst« der Terror der »Roten Armee Fraktion« mit den Mordanschlägen auf Generalbundesanwalt Buback und den Bankier Ponto und mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer seinen Höhepunkt. Die Bundesrepublik befindet sich, so Bundeskanzler Helmut Schmidt, in der »schwersten Krise des Rechtsstaates«, als am 13. Oktober palästinensische Terroristen die Lufthansa-Maschine »Landshut« entführen, um die Forderung der Schleyer-Entführer nach der Entlassung inhaftierter RAF-Häftlinge zu unterstützen. Fünf Tage später gelingt es der Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes, GSG 9, die Maschine in Mogadischu / Somalia zu stürmen und die Geiseln zu befreien. Am selben Tag begehen die Terroristen Baader, Ensslin und Raspe in der Haft in Stuttgart-Stammheim Selbstmord. Tags darauf wird Hanns Martin Schleyer im Kofferraum eines Autos ermordet aufgefunden. +++
Biographie Leszek Kołakowsk
Der kritische Denker Leszek Kołakowski, geboren am 23. Oktober 1927 in Radom (Polen), studiert Philosophie und Theologie und wird 1953 als Privatdozent für Philosophie an der Universität Warschau habilitiert. Kolakowski, Mitglied der KP, fordert beharrlich eine Revision des Marxismus. Er wird 1956 mit seiner Befürwortung eines humanistischen Marxismus einer der Wortführer des »Polnischen Oktobers«. 1958 übernimmt er eine Professur an der Warschauer Universität.
In den folgenden Jahren distanziert er sich nach und nach vom Marxismus und wird schließlich 1966 wegen kritischer Äußerungen zu den aktuellen Zuständen aus der Partei ausgeschlossen. 1968 stellt er sich auf die Seite der protestierenden Studenten und muss daraufhin seinen Lehrstuhl aufgeben.
Im Dezember desselben Jahres reist er nach Kanada aus und lehrt später in Oxford, Yale und Chicago. Neben der Auseinandersetzung mit dem Marxismus geht es Kolakowski in den folgenden Jahren um die Frage nach der Letzt-begründung menschlichen Lebens. Abseits von Aufklärung und Säkularisierung sucht er in einem Reservoir mythischer Bilder und Anschauungen die eigentliche Begründung des menschlichen Daseins.
Leszek Kolakowski stirbt am 17. Juli 2009 im Alter von 81 Jahren.
Auszeichnungen
2007 Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft
2003 John W. Kluge-Preis für ein herausragendes Lebenswerk im Dienste der Geisteswissenschaften
1998 Orden des Weißen Adlers
1994 Prix Tocqueville
1991 Ernst-Bloch-Preis
1983 Mc Arthur Foundation Prize
1983 Erasmuspreis für Verdienste um die europäische Kultur
1980 Europäischer Essaypreis
1977 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Bibliographie
Narr und Priester. Ein philosophisches Lesebuch
Hrsg. von Gesine Schwan, übersetzt von Heinz Abusch, Polnische Bibliothek, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-518-02682-8
Die Hauptströmungen des Marxismus – Entstehung, Entwicklung, Zerfall
3 Bände, Piper, München 1977–1978, ISBN 978-3-492-02310-8
Die Philosophie des Positivismus
Piper, München 1971, ISBN 978-3492003186
Traktat über die Sterblichkeit der Vernunft. Philosophische Essays
Piper, München 1967
Der Mensch ohne Alternative. Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu sein
Aus dem Polnischen von Wanda Brońska-Pampuch, aus dem Englischen von Leonard Reinisch, Piper, München 1964, Neuausgabe 1984, ISBN 3-492-00440-7