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Seine Bilder lassen niemanden unberührt

© Yann Arthus-Bertrand

Der brasilianische Fotograf Sebastião Salgado, 2019 mit dem Friedenspreis geehrt, feiert am 8. Februar 2024 seinen 80. Geburtstag. Martin Schult blickt zurück auf Salgados Lebenswerk - und ein ganz besonderes Gespräch in der Frankfurter Paulskirche.

Fünf Schulklassen - ein langes Gespräch

150 Schüler*innen, ein Laudator und drei Friedenspreisträger*innen kommen am Vortag der Friedenspreisverleihung 2019 in der Frankfurter Paulskirche zusammen. Die Generalprobe mit dem ZDF ist gut verlaufen, an den Wänden hängen zwei riesige Fotografien des Preisträgers, letzte Anpassungen bei der Bühnendekoration sorgen für ein warmes und einladendes Gesamtbild.

Die fünf Schulklassen haben sich intensiv vorbereitet. Sie haben die Friedenspreisrede von Aleida und Jan Assmann aus dem Vorjahr gelesen, den 2014 für den Oscar nominierten Film »Das Salz der Erde« von Wim Wenders und Juliano Salgado angeschaut und sich mit den Fotografien von Sebastião Salgado beschäftigt.

Gemeinsam mit den Lehrer*innen haben wir verabredet, dass allen Beteiligten Fragen gestellt werden sollen, doch mit der Zeit wird deutlich, dass sich die Schüler*innen vor allem für den brasilianischen Fotografen interessieren. Zwei Stunden dauert das Gespräch, drei Viertel davon bestreitet Sebastião Salgado allein.

Das liegt aber nicht nur an seiner Arbeit als Fotograf, bei der er in den vergangenen 50 Jahren die Welt bereist und mit seiner Kamera Schönes wie Schreckliches festgehalten hat. Es liegt auch an dem Umweltprojekt auf seiner Farm in Brasilien, wo er seit zwanzig Jahren ein ehemaliges Urwaldgebiet renaturiert hat. Über allem aber schwebt bei dem Gespräch etwas anderes: der Mensch Sebastião Salgado.

Der damals 75-jährige ist wie ein offenes Buch, in dem die Schüler*innen blättern können und ihm jede Frage stellen dürfen. Er ist Großvater und Freund zugleich, der eine, weil er die Jugendlichen an seiner Weisheit teilhaben lässt, der andere, weil die jungen Menschen durch ihre Smartphones, Tablets und die Social-Media-Foren einen Zugang zum Medium Fotografie bekommen haben, mit dem sie sich ihm nah fühlen.

Irgendwann setzen sich auch die Mitarbeiter*innen des ZDF zu uns und hören zu, was Sebastião Salgado zu erzählen hat, so spannend und informativ sind seine Geschichten. Er sitzt mit seiner Frau Lélia, seinem Laudator Wim Wenders und den beiden Assmanns auf den kalten Steinstufen der Bühne in der Paulskirche und wirft mir hin und wieder einen leidenden Blick zu, der aber nichts mit dem Gespräch zu tun hat, das er sichtlich genießt. Ich hätte Kissen mitbringen sollen …

Die Fotos lösen auch im Stiftungsrat etwas aus

In den vergangenen 75 Jahren ist der Stiftungsrat für den Friedenspreis ab und zu vom Erwartbaren abgewichen und hat Menschen oder Institutionen ausgezeichnet, die sich anders als die restlichen Preisträger*innen nicht vornehmlich mit Texten und Büchern für Frieden, Freiheit und Verständigung eingesetzt haben – 1973 der Club of Rome, 1979 Yehudi Menuhin, 1985 Teddy Kollek oder 2008 Anselm Kiefer.

Bei ihnen haben vor allem gesellschaftliches oder politisches Engagement und Kunst oder Musik im Fokus gestanden, was gemäß den Statuten des Preises zwar durchaus möglich ist, man aber zugleich erleichtert war, dass bei ihnen mit Forschungsergebnissen, Biographien und Kunstkatalogen auch etwas vorhanden war, was sich mit dem zweiten Teil des Preisnamens – … des Deutschen Buchhandels – in Verbindung bringen ließ.

Als Sebastião Salgado 2019 gewählt wird, steht diese Frage jedoch nicht zur Diskussion. Mit zahlreichen Fotobänden, u.a. »Gold« (2019), »Exodus« (2016), »Kuwait – eine Wüste in Flammen« (2016), »Genesis« (2013) oder »Africa« (2007), verschaffen sich die Mitglieder des Stiftungsrates einen Überblick über sein Werk. Sie sind fasziniert, dass die abgebildeten Fotografien, die nur von kurzen Erläuterungstexten begleitet werden, in ihnen etwas auslösen, was einzigartig zu sein scheint …

Zeugnisse menschlichen Leids

Im Buch »Gold« sind Fotografien versammelt, die Sebastião Salgado in den 1980er Jahren in der größten Freiluftmine der Welt in der Serra Pelada nördlich von Rio de Janeiro aufnimmt. 50 000 Menschen graben und hacken hier nach Gold. Die Bilder zeigen sowohl die Arbeiter, wie sie zu Tausenden ameisengleich aus der Mine herausklettern, als auch Einzelaufnahmen von ihnen. Lachen, Trauer, Gewalt, die Last der Arbeit und die Hoffnung, reich werden zu können, spiegeln sich in den Gesichtern wider. Die Schwarzweiß-Aufnahmen betten die verdreckten Arbeiter ein in die dort herrschende Realität voll Schlamm und Geröll, das Fehlen jeglicher Farbe lässt sie – schwarz, weiß und grau – mit der Erde verschmelzen.

»Africa« ist eine Sammlung von Fotografien aus den zahlreichen Reisen, die Salgado auf dem Kontinent unternommen hat. Er war in Ruanda kurz nach dem Völkermord der Hutu an den Tutsi und hielt die Massengräber, die Not und das Elend auf seinen Bildern fest (die vor allem in dem Bildband »Exodus« anzuschauen sind), und er war in Mali und anderen Gegenden, um die dort herrschenden Hungersnöte zu dokumentieren. Diese ergreifenden und schockierenden Zeugnisse menschlichen Leids werden kombiniert mit zahlreichen weiteren Abbildungen aus dem afrikanischen Alltag und von den Landschaften dieses Kontinents.

»Genesis« kommt nur mit wenigen Abbildungen von Menschen aus; es zeigt vor allem die Großartigkeit der Natur. Ob Eisformationen, unberührter Urwald, eine Walflosse, Tausende von Möwen an einem Strand – die Erde, wie Salgado sie uns hier zeigt, ist angesichts der Faszination über ihre Vielseitigkeit nicht mit Worten zu beschreiben. Der Fotoband ist unsagbar schön und wirkt zugleich wie eine Anklage aus Sorge vor dem, was wir Menschen in unserem Drang, die Erde für unsere Zwecke zu nutzen, zerstören könnten.

Jedes einzelne Bild in diesen und den anderen Fotobänden erzählt nicht nur eine, sondern viele Geschichten. Sie geben jedem die Möglichkeit, das, was zu sehen ist, in den Kontext der eigenen Erfahrungen, der eigenen Ästhetik zu stellen. Man kann sich in den Bildern verlieren, man kann sich von ihnen distanzieren, nur unberührt lassen sie einen nicht.

Eine Gratwanderung - aber eine wichtige

Mitunter hat man das dem Fotografen auch vorgeworfen: Durch die ästhetisch beeindruckenden Schwarzfotografien rücke das Leid des abgebildeten Menschen in den Hintergrund. Darf man dem Hunger oder dem Tod auf diese Weise ein Gesicht geben? Ist das nicht Verrat an denjenigen, die abgebildet sind? Steht der Fotograf mit seinen künstlerischen Fertigkeiten zu sehr im Vordergrund? Ja, verdient der Fotograf nur deswegen sein Geld, weil er das Leid anderer fotografiert?

Sebastião Salgado hat – bis auf die Aufnahmen von Menschenmassen – jeden einzelnen gefragt, ob er sie oder ihn porträtieren dürfe. Zahlreiche seiner Bilder hat er für soziale und wohltätige Zwecke zur Verfügung gestellt, er bringt die Menschen, die seine Fotografien über die Hungersnöte in Zeitschriften und Magazinen sehen, zum Spenden, und mit seinen hochwertig gestalteten und nicht gerade günstigen Büchern erreicht er auch jene, denen es besser geht, die mit ihrem Wohlstand, ihrem Einfluss etc. etwas gegen das Elend tun können. Ja, es ist eine Gratwanderung, aber ohne seine Fotografien hätten wir von vielen Katastrophen auf dieser Welt keine Vorstellung …

»Nur einer, der so mit anderen gelitten hat, der zu den Machtlosen, den Unterdrückten, Hungernden und Fliehenden gegangen ist, sie begleitet hat, ihnen Zeit geschenkt hat, ihnen zugehört und ihnen so eine Stimme gegeben hat«, greift dies Wim Wenders in seiner Laudatio auf, »nur so einer kann uns auch die Augen aufmachen und sagen: Schaut, was es noch alles gibt, was noch so ist wie am Anfang. Schaut, was ihr noch erhalten könnt oder müsst, und was noch nicht für immer vergangen ist.«

In seinen Fotografien können wir den Menschen in all seinen Facetten erkennen, aber auch hinter ihn blicken und sehen, was er getan hat oder was vor ihm geschützt werden muss. Den Friedenspreis teilt er symbolisch mit all jenen Menschen, deren Leid er über die Jahrzehnte fotografiert hat. Doch an dieser Arbeit ist der Fotograf auch erkrankt und hat lange gebraucht, um etwas zu finden, das ihn aus dem Tief herausholen konnte.

Zum einen ist es das Buch »Genesis«. »Ich hatte ein starkes Bedürfnis, mit Menschen zusammen zu sein, die ein Leben in Reinheit genossen«, sagt er in der Paulskirche, »der Reinheit jener, die vom Zugriff der sogenannten Zivilisation verschont geblieben sind, aber auch der Reinheit der Umwelt, der Flora und Fauna, der Bäume und der urwüchsigen Natur.« Zum anderen ist es das, was er gemeinsam mit seiner Frau in Brasilien aufbaut. »Lélia hat mir durch ihre Liebe das Leben gerettet, als ich aus Ruanda kam, ein gebrochener Mann, heimgesucht vom Blut und vom Tod, dem ich begegnet war.«

Eine Welt in schwarzweiß

Gegen Ende des Treffens mit den Schulklassen kommt auch Lélia Wanick Salgado durch die Frage einer Schülerin ins Erzählen. Sie hat ihren Mann über all die Jahrzehnte begleitet, Bücher und Ausstellungen konzipiert, das Archiv aufgebaut, die Familie zusammengehalten. Mitte der 1990er Jahre seien sie zurück nach Brasilien gekehrt, das sie 1969 aus politischen Gründen hätten verlassen müssen, antwortet sie auf die Frage nach ihrem Wiederaufforstungsprojekt. Die Bulcão-Farm der Familie Salgado und die sie umgebenden Wälder seien in einem fürchterlichen Zustand gewesen.

So gründeten sie 1998 das gemeinnützige »Instituto Terra«, pflanzten Bäume und renaturierten das 68o Hektar große, zur Öde gewordene Land. Das Projekt ist eine Erfolgsgeschichte. 2,7 Millionen Bäume wurden gepflanzt, hunderte Vogel- und andere Tierarten siedelten sich wieder an. Es wird von vielen Helfer*innen weitergeführt, sodass Sebastião Salgado auch wieder Zeit findet, sich neuen Projekten zuzuwenden.

Eines davon mündete 2021 in dem Bildband »Amazônia«, nachdem er über Jahre die noch weitgehend unberührte Natur und die dort lebenden indigen Völker fotografiert hatte. In Wim Wenders »Das Salz der Erde« lässt sich erahnen, wieviel Mühe und Zeit es braucht, das Vertrauen der Menschen dort zu gewinnen.

»Natürlich wird ein Weißer, der die Ureinwohner fotografiert, mit Misstrauen betrachtet«, erzählt er bei der Friedenspreisverleihung über seinen Aufenthalt in anderen südamerikanischen Ländern in den 1970er Jahren. »Deswegen verbrachte ich lange Zeiträume in Ruhe mit ihnen, bis sie mich schließlich akzeptierten. […] Sie wollten, dass ich ihnen Geschichten erzählte, ihnen mein Leben erklärte. Und ihr Geschenk an mich waren die Bilder, die ich von ihnen machen durfte.«

Mit »Amazônia« verbunden ist eine 2023 in Madrid uraufgeführte multimediale Ausstellung mit musikalischer Begleitung, die im Herbst dieses Jahres auch nach Frankfurt kommen wird. Doch zuvor feiert Sebastião Salgado am 8. Februar seinen 80. Geburtstag.

Vielleicht ist er auf Reisen, vielleicht aber auch in seinem Pariser Atelier, das ihm zugleich als Archiv dient, in dem mit unzähligen von Negativen und Abzügen mit den Jahren eine neue, schwarzweiße Welt entstanden ist, von dem die herausgegebenen Bildbände nur einen geringen Teil zeigen.

Feliz aniversário, Sebastião!

Wer selbst fotografiert, weiß, dass man nur mit einem Zehntel der Aufnahmen zufrieden ist, vielleicht sogar noch weniger. Den Schüler*innen am Vortag seiner Friedenspreisverleihung gibt Salgado einen Rat mit auf dem Weg: »Ihr dürft eure Bilder bearbeiten, damit sie schöner und besser werden. Ihr dürft sie aber niemals verfälschen.«

Denn auch das Scheitern hat seine Berechtigung, und so wäre es faszinierend, auch einmal seine misslungenen Abbildungen von der Welt zu sehen. Doch wahrscheinlich ist er zu sehr Künstler, um sich auf solch ein Projekt einzulassen. Feliz aniversário, Sebastião!

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