Salgado und wie er die Welt sah
Am 23. Mai 2025 ist der brasilianische Fotograf Sebastião Salgado, Friedenspreisträger von 2019, verstorben. Ein Nachruf von Martin Schult
»Die Zukunft der Menschheit liegt in unseren eigenen Händen. Um eine andere Zukunft zu errichten, müssen wir die Gegenwart verstehen. Meine Fotos zeigen diese Gegenwart, und so schmerzhaft der Anblick ist, wir dürfen den Blick nicht abwenden.«
(Aus der Friedenspreisrede von Sebastião Salgado)
Vor ein paar Tagen, am 23. Mai 2025, hat uns ein Mensch verlassen, der mir sehr wichtig war. Für ein paar Monate im Jahr 2019 haben wir uns gegenseitig Vertrauen geschenkt. Er hat sich auf mich verlassen, damit ich ihm dabei helfe, seine Gedanken in eine Rede umzuwandeln. Und ich war ihm dankbar, dass ich durch ihn eine andere Sicht auf die Welt kennengelernt habe, auf uns Menschen und auf das, was bereits von uns zerstört wurde, obwohl wir es hätten bewahren sollen.
Der Friedenspreis
Ein paar Wochen vor der Friedenspreisverleihung 2019 besuchten Heinrich Riethmüller (Vorsteher des Börsenvereins) und ich den Preisträger Sebastião Salgado und seine Frau Lélia in ihrer Agentur Amazonas Images in Paris. Wir wurden von den beiden mit einer Herzlichkeit und Wärme empfangen, die mich verblüffte. Einer der bekanntesten Fotografen der Welt, dessen Bilder in hochklassigen Büchern veröffentlicht werden, der mit wichtigen Politiker*innen verkehrt, um ihnen seine Vision von einer besseren Welt vorzustellen, dessen beeindruckendes Leben von seinem Sohn Juliano und Wim Wenders in dem Dokumentarfilm »Das Salz der Erde« festgehalten wird, war neugierig auf das, was wir ihm über den Friedenspreis erzählten, und begab sich dann einfach so, ohne großes Spektakel, in meine Hände.

Das offizielle Friedenspreisfoto von Sebastião Salgado - © Yann Arthus-Bertrand
Jetzt schreibe ich einen Nachruf auf ihn. Um nicht an der Größe dieses Künstlers zu scheitern, betrachte ich nicht zuerst seine Fotografien, sondern ein Bild, das ihn selbst, diesen warmen und nahbaren Menschen, zeigt. Es ist das offizielle Friedenspreisfoto, und es ist – wie sollte es auch anders sein – eine Schwarzweißfotografie, auf der etwas abgewandt Sebastião Salgado direkt in die Kamera schaut. Das erste Auffälligkeit an ihm ist seine Glatze. Die Haare waren ihm aber nicht ausgefallen, er hatte sie sich abrasiert – das erste Mal 1994, vor über dreißig Jahren, weil auf seinen Reisen einfach zu viele Parasiten in ihnen nisteten.
Und dann wandert mein Blick zu seinen Augen …
Ja, es sind die Augen, die unter leicht buschigen, mittlerweile weiß gewordenen Brauen mehr als achtzig Jahre die Schönheit, aber vor allem auch die Tragik des Lebens gesehen haben. Dadurch ist ein Schatz an Erinnerungen entstanden, der es Sebastião Salgado ermöglichte, auf seinen Fotografien sowohl die Realität sichtbar zu machen als auch eine Geschichte zu erzählen.
Eher zufällig entdeckte der studierte Wirtschaftswissenschaftler die Faszination der Fotografie, dann aber kam er nicht mehr von ihr los. Die Entscheidung, nicht nur für sich durch die Kamera zu blicken, sondern die entstandenen Bilder auch der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, war gewagt. Jahre hat es gedauert, bis der Autodidakt ausreichend Geld verdienen konnte, um seine Familie – die Pianistin Lélia und ihre beiden Söhne Juliano und Rodrigo – zu ernähren.
Gold
Eine Anstellung als Pressefotograf hat Sebastião Salgado nicht interessiert. Anstatt tagein tagaus Auftragsarbeiten auszuführen und mit einer Vielzahl von Bildern das aktuelle Tagesgeschehen festzuhalten, ging er lieber in die Welt hinaus, um dort teils über Monate, manchmal Jahre an einem Projekt zu arbeiten. Die Fotodokumentation »Gold« über die Arbeiter in der Mine im brasilianischen Serra Pelada, die zu Zehntausenden in einem immer tiefer werdenden riesigen Loch Gold schürfen, ist ein beeindruckendes Beispiel dafür.

Goldsucher in der Mine von Serra Pelada, Brasilien 1986 - © Sebastião Salgado
Jahrelang hatte er sich bemüht, eine Genehmigung zu bekommen, um dann endlich – 1986 – das festzuhalten, was uns beim Betrachten seiner Schwarzweißfotografien so sprachlos macht. Auf den ersten Blick kommen uns die wimmelnden Menschen auf den Bildern wie Ameisen vor, doch Ameisen sind nicht dreckig. Diese Männer, teilweise sogar Professoren und ehemalige Beamte, befinden sich in einem wahren Goldrausch. Sie werden Teil ihrer Umgebung, die nur aus feuchter brauner Erde besteht, um das zu finden, worauf sich die gesamte Weltwirtschaft gründet – das edelste Metall der Welt.
Migrants
»Damals war uns nicht klar, dass die Hungersnot eine Folge der Erderwärmung war: Agrarland verödete, Seen trockneten aus und der Pegel des großen Flusses Niger, der Jahrtausende lang riesige Gebiete bewässert hatte, sank drastisch ab. Als das Land gelb wurde, verließen viele Touareg- und Fulani-Familien ihr Land und siedelten sich in Lagern an den Stadträndern an. Es war schrecklich zuzusehen, wie diese stolzen Nomaden und Bauern zu Flüchtlingen wurden.«
(Aus der Friedenspreisrede von Sebastião Salgado)
Es sind die Augen, die in andere Augen geblickt haben, in denen das Leben schon fast erloschen war. In den 1970er Jahren arbeitete Sebastião Salgado mit zahlreichen Hilfsorganisationen zusammen, um die Auswirkungen der für ihn so wichtigen Themen wie Armut, Flucht, Heimatlosigkeit und Krieg mit der Kamera festzuhalten. Seine damalige Entscheidung, nicht die immer üblicher werdende Farbfotografie zu verwenden, sondern konsequent in Schwarz-weiß zu arbeiten, machte seine Bilder zu etwas Besonderem.
Sie schärfen den Augenblick und schaffen zugleich eine Distanz, wodurch den im Bildband »Migrants« veröffentlichten Fotografien – Flüchtlingslager in der Wüste, verdurstete Tiere, von Hunger und dem nahen Tod gezeichnete Menschen – anfangs ein wenig vom Grauen genommen wird, das beim längeren Hinschauen dafür umso stärker wieder hervortritt. Bewusst setzte Sebastião Salgado auf eine Ästhetik, die aber auch verstören kann. Mitunter warf man ihm Voyeurismus vor, oder dass er in den abgebildeten Menschen nur ein Mittel zum Zweck sah, seine Fertigkeiten als Fotograf in den Fokus zu stellen, nicht das Leid.

Frau im Korem Camp, Ethiopia 1985 - © Sebastião Salgado
Andere hingegen erkannten in seinen Bildern den Respekt, den er für die Menschen hatte. Sebastião Salgado hat die Hungernden und die Flüchtenden nie ungefragt fotografiert. In dem Wissen, dass er ihr Leid nur schildern, sie aber nicht retten kann, hat er sie auf eine Weise abgelichtet, die ihre Würde bewahrt. Gerade das fordert zum Handeln auf. Siehst du das Leid? Dann tu was dagegen, denn dieser Mensch ist wie du.
Ruanda
»Ich sah einen Mann, der ein kleines Paket im Arm trug, während er mit einem anderen Mann redete. Als er die Grube erreichte, warf er die Leiche seines eigenen Kindes hinein, ohne das Gespräch zu unterbrechen. Ich konnte nicht aufhören, zu fotografieren. Ich wollte, dass die Bilder Zeugnis ablegten über das Grauen, das sich vor meinen Augen abspielte und das die Weltgemeinschaft wissentlich ignorierte.«
(Aus der Friedenspreisrede von Sebastião Salgado)
Es sind die Augen, deren zuweilen etwas kühl wirkender Ausdruck verschwand, sobald Sebastião Salgado über seine Fotografien sprach. Jahrelang hielt er sie offen, um durch den Sucher der Kamera den richtigen Augenblick festzuhalten. In den meisten Fällen waren seine Bilder aber keine Schnappschüsse, sondern gewollt. Was wir als Auswahl in seinen Bildbänden oder in Ausstellungen betrachten können, ist nur ein Bruchteil dessen, was er sah.
Zufällig war er in Ostafrika, als im April 1994 in Ruanda das Massaker an den dort lebenden Tutsi verübt wurde. Er fuhr hin und wurde zum Zeugen eines unbeschreiblichen Verbrechens an der Menschheit. In dem Film »Das Salz der Erde« schildert er, was er gesehen hat. Dabei bricht mehrmals seine Stimme. Die Kamera aber hat er nicht aus der Hand genommen, egal wie grausam das war, was er durch sie sehen musste. Das hat ihn krank gemacht. Wir haben die Freiheit, ein Fotobuch wieder zuzuklappen, sollte uns das gezeigte Leid zu viel werden. Ihm hatte es sich in die Netzhaut gebrannt.
Instituto Terra
»Lélia hat mir durch ihre Liebe das Leben gerettet, als ich aus Ruanda kam, ein gebrochener Mann, heimgesucht vom Blut und vom Tod, dem ich begegnet war.«
(Aus der Friedenspreisrede von Sebastião Salgado)
Es sind die Augen, die wieder sehen lernen mussten. Lélia nahm ihm sinnbildlich die Kamera weg. Die Familie ging zurück in ihr Heimatland Brasilien, aus dem sie 1969 wegen ihres politischen Engagements gegen die damals herrschende Militärjunta hatte flüchten müssen. Hier fanden sie die Farm von Salgados Familie in einem erbärmlichen Zustand vor. Der frühere Regenwald war vollkommen verschwunden – Resultat einer aggressiven Landwirtschaft, die für den Weltmarkt Soja, Rinder und vieles weitere produzierte und sich nicht um die Konsequenzen scherte.
Sebastião und Lélia Salgado gründeten das Instituto Terra und pflanzten über die Jahre mehr als zweieinhalb Millionen Bäume. Anfangs erlitten sie Rückschläge, wenn zum Beispiel mehr als die Hälfte der Sprösslinge einging, doch bald entstand ein Biotop, in dem sich mittlerweile auch wieder Tiere ansiedeln. Heute ist Salgados Farm ein Nationalpark und Vorbild für viele weitere Aufforstungsprojekte auf der ganzen Welt.
Diese Arbeit in der Natur setzte bei Sebastião Salgado etwas frei, das man Demut nennen könnte, und es förderte bei ihm den Wunsch, sich in einem großen Projekt der Natur auf diesem Planeten wieder fotografisch zuzuwenden …
Genesis
»Nach den unaussprechlichen Gräueln von Ruanda hatte ich ein starkes Bedürfnis, mit Menschen zusammen zu sein, die ein Leben in Reinheit genossen – der Reinheit jener, die vom Zugriff der sogenannten Zivilisation verschont geblieben sind, aber auch der Reinheit der Umwelt, der Flora und Fauna, der Bäume und der urwüchsigen Natur. So reiste ich acht Jahre lang, von 2004 bis 2012, von der Antarktis bis zur Arktis, durch Sibirien, Neuguinea, Sumatra, Äthiopien, Sudan und an den Amazonas, den Ort, auf dem heute der Fokus meiner Arbeit liegt.«
(Aus der Friedenspreisrede von Sebastião Salgado)
Es sind die Augen, die mitunter Stunden auf den richtigen Augenblick warteten, bis Licht und Schatten genau die Atmosphäre entstehen ließen, die es verdiente, auf den Auslöser zu drücken. »Genesis« nannte Sebastião Salgado das Projekt, die Antwort auf »Exodus«, in dem er das Leid der hungernden und flüchtenden Menschen gezeigt hatte. Über Jahre bereiste er die Welt und besuchte selbst die entlegensten Landschaften, um in dem dadurch entstandenen Bildband und der dazugehörenden Ausstellung zu zeigen, wie schön und wie wichtig die Natur für diesen Planeten ist.

Antarctica 2005 - © Sebastião Salgado
Der Erfolg dieses Projekts war einzigartig. Wir haben den Erdball schon so weit zerstört, dass wir glauben, Natur könne nur noch etwas Menschengemachtes sein. Salgados Bilder zeigen uns das Gegenteil, warnen aber zugleich vor der Zerbrechlichkeit dieser Unberührtheit.
Amazônia
Auf die Genesis folgte »Amazônia«. Schon seit Jahrzehnten bereiste Sebastião Salgado immer wieder das Amazonasgebiet und drang auch in jene Gegenden vor, in denen ein Fremder noch nie zuvor gewesen war. Die dort lebenden indigenen Völker reagierten unterschiedlich auf ihn. Manche waren neugierig, andere feindselig, gleichgültig war niemand. Der Fotoband zeigt Erstaunliches. Durch die Anwesenheit dieser Menschen in der unberührten Natur verschwindet das Schuldgefühl und macht einer Sehnsucht Platz, ob es nicht immer so sein könnte. In der westlichen Zivilisation wird die Natur entweder idealisiert oder als schmutzig empfunden. In den Bildern Salgados ist sie Wohnstube, Schlafzimmer und Küche zugleich.
2019 wurde Sebastião Salgado also mit dem Friedenspreis ausgezeichnet. Seine Rede, aus der die hier angeführten Zitate stammen, funktionierte, seine einfache Botschaft – Macht aus der Welt, so wie ich sie haben sehen müssen, eine bessere – kam an, auch weil er den Preis mit all denen teilte, deren Leben er auf seinen Reisen durch die Welt festgehalten hat.
2024 wurden in der Alten Oper Frankfurt schließlich seine Bilder aus dem Amazonas großformatig »aufgeführt« – begleitet durch ein Orchester, das durch die Musik von Philip Glass und des brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos den Bildern eine weitere Dimension gab. Das Konzert wie auch die gesamte Ausstellung, von Lélia und Sebastião Salgado geradezu meisterhaft komponiert, wird Ende des Jahres in Köln gezeigt – es ist ein Muss für diejenigen, die sich schon an seinen Bildbänden nicht satt sehen können.
Rodrigo
»Er kann nicht lesen, schreiben, sprechen. Die Bilder kommen also aus der Tiefe seiner selbst. Alle Momente seines Lebens sind der Malerei gewidmet.«
(Sebastião Salgado über seinen Sohn Rodrigo)
Es waren die Augen, die nun geschlossen sind und nicht mehr für uns sehen können. Was das Werk von Sebastião Salgado betrifft, gibt es ein reiches Archiv, in dem Zigtausende von Fotografien abgelegt sind. Lélia und die Mitarbeiter*innen werden es weiter pflegen und hoffentlich, wenn die Trauer über seinen Tod es zulässt, weitere Bildbände veröffentlichen.
Was das Leben betrifft, das Sebastião Salgado am vergangenen Donnerstag in Paris nach einer schweren Leukämieerkrankung verließ, haben wir einen Menschen verloren, dessen mitfühlsame Sensibilität nicht nur den Menschen auf seinen Fotografien galt. Bei jedem, dem ich seit 2019 begegnete und der ihn kannte, sah ich dieses Leuchten in den Augen, das immer dann entsteht, wenn der sogenannte Funke überspringt, wenn ein Mensch von einem anderen Menschen entzündet wird.

Rodrigo Salgado: Kirchenfenster in der Ancienne église du Sacré-Coeur - © DR
Doch leider … konnte Sebastião Salgado nicht mehr dabei sein, als am vergangenen Wochenende im französischen Reims die Ausstellung seines Sohnes Rodrigo eröffnet wurde. Rodrigo hat das Down-Syndrom und kann sich seiner Umgebung kaum mitteilen. Aber er hat als Künstler gearbeitet und Bilder gemalt, die nun in der Ancienne église du Sacré-Coeur ausgestellt werden.
Eins davon hat das Atelier Simon-Marq sogar in ein vierteiliges Kirchenfenster umgewandelt. Es ist bunt und somit ganz anders als die Fotografien des Vaters. Vor ein paar Wochen schickte der mir eine Einladung zur Vernissage, drei Tage vor seinem Tod erhielt ich von ihm sogar noch eine Wegbeschreibung. Doch nun ist er tot.
Was bleibt, ist seine Familie. Lélia kümmert sich ums Archiv, Juliano dreht Dokumentarfilme, Rodrigo ist Künstler. Was bleibt, sind seine Bilder. Sie werden weiterhin in Ausstellungen gezeigt und als Bildbände veröffentlicht. Was aber fehlt, sind die Geschichten, die Sebastião erzählt hat, um uns zu verdeutlichen, dass eine Fotografie nicht nur ein Abbild des Augenblicks ist, sondern mitunter das eines ganzen Lebens.
Mehr über den Preisträger
Friedenspreis 2019