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Über den Umgang mit Menschen

© Phil Dera

Friedenspreisträger Karl Schlögel, seine Frau Sonja Margolina und ein zweiköpfiges Team vom ZDF sind für eine Reportagereise von Przemysl nach Lemberg gefahren. Martin Schult hat sie begleitet.


Am nächsten Morgen, im Zug nach Berlin, kann ich Karl Schlögel ansehen, wie das Erlebte in ihm arbeitet. Ich weiß, dass ihm die Reise hilft, weiter an seiner Rede zu arbeiten, die er am 19. Oktober in der Frankfurter Paulskirche halten wird.

Martin Schult

Die alte Busstation in Przemysl liegt direkt neben dem Bahnhof. Dessen frisch renovierte Fassade verkündet, was das polnische Städtchen nahe der Grenze zur Ukraine gerne sein möchte: eine normale Handelsstadt und Marktplatz, regional bedeutend mit bürgerlichem Stolz und handwerklicher Tradition. Tabakspfeifen und Zigarettenspitzen werden seit Jahrhunderten hier, am nördlichen Rand des alten habsburgischen Reiches, in hoher Qualität hergestellt. Und auf den Speisekarten der hübsch eingerichteten Gaststätten findet sich neben polnischen und ukrainischen Spezialitäten mitunter auch ein ungarisches Gulasch oder ein österreichischer Palatschinken.

Die K-u-K-Vergangenheit Przemysls, elf Stunden Zugfahrt von Berlin entfernt, lässt sich aber auch an den längst verblassten Haltestellenschildern des Busbahnhofs ablesen: Hier kreuzten sich die Linien nach Krakau, Prag und Lemberg. Sie zeugen davon, dass Przemysl einst ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt war, bis Autobahnen und Fluglinien es in eine Art Dornröschenschlaf versetzt haben.

Vor drei Jahren wachte das Städtchen aber wieder auf und wurde zu einer wichtigen Etappe auf der Reiseroute der aus der Ukraine fliehenden Menschen. Tausende Frauen und Kinder kamen nach dem 24. Februar 2022 auf osteuropäischer Breitspur hier an und fuhren auf westeuropäischer Schmalspur weiter – in die sicheren Gebiete, wo sie seitdem leben und auf das Ende des Krieges warten. Viele fahren von Przemysl aus auch wieder zurück, wenige für immer, die meisten nur zum Besuch.

Deswegen hat uns der Taxifahrer hierhergebracht – um in den Bus nach Lwiw, polnisch Lwow, deutsch Lemberg, einzusteigen. Um die 96 Kilometer zurückzulegen, stehen uns fünf Stunden Fahrt bevor. Die Busgesellschaft rechnet also mit etwa drei Stunden Aufenthalt an der Grenze. Mit dem Zug würde es schneller gehen, doch alle Verbindungen sind ausgebucht.

Hindernisse auf der Fahrt

Ich begleite Karl Schlögel, seine Frau Sonja Margolina und ein zweiköpfiges Team vom ZDF, die in der Partnerstadt von Frankfurt am Main ein Porträt des diesjährigen Friedenspreisträgers drehen werden. Grenzen (auch die im Kopf) überwinden und zeigen, dass Lemberg und die Ukraine Teil Europas sind und es auch immer schon waren – das ist das Ansinnen, ohne den Einfluss aus dem Osten zu ignorieren: die Beziehungen zu Russland, die auf Eis liegen, oder die aktuelle Hinwendung zur orthodoxen Kirche, obwohl zumindest die Westukraine lange katholisch geprägt war. 

Es ist sieben Uhr morgens, wir sind allein an der Station. Unser Bus müsste jetzt abfahren, aber er ist noch nicht einmal da. Wir schauen auf unsere Tickets, um zu prüfen, ob die Uhrzeit stimmt. Dabei merken wir, dass als Abfahrtsort eine Haltestelle am Rande der Stadt angegeben ist. Als wir dort mit zwei eilig herbeigerufenen Taxis ankommen, ist der Bus natürlich längst fort. Gestrandet im Gewerbegebiet, gegenüber liegt ein amerikanisches Schnellrestaurant, wir sind ratlos.

Wir könnten doch zu Fuß über die Grenze gehen, schlagen die Taxifahrer uns vor, um dann auf der ukrainischen Seite einen Wagen zu suchen, der uns nach Lemberg fährt. Stefan Gagstetter, der Regisseur, zieht einen riesigen grünen Koffer hinter sich her, nachdem wir aus den Taxis gestiegen sind und nun tatsächlich zum Kontrollgebäude laufen. René Feldmann hat zwei Kameras und jede Menge Equipment dabei. Ich helfe ihm beim Tragen, während Karl Schlögel mit seinem kleinen Koffer leichtfüßig vor uns her geht. Auch Sonja Margolina hat sich nur auf das Nötigste beschränkt – als hätten sie geahnt, dass die Reise unbequem werden könnte.

Weil wir nun diesen mühsamen Weg auf uns nehmen müssen, befürchte ich, die beiden könnten ungehalten sein. Sonja Margolina nimmt es jedoch gelassen hin, Karl Schlögel ist sogar ein wenig euphorisch. Wie es ist, wenn man wie die vielen Geflüchteten so viel Ungemach auf sich nehmen muss, um eine Grenze zu passieren – diese Erfahrung saugt er geradezu in sich auf. Als Bewohner des Schengenraums ist es für uns ungewohnt, den Pass vorzuzeigen und den prüfenden Blick ins Gesicht auszuhalten. Und doch ist es nicht unangenehm, auf diese Weise ein Land zu betreten, das sich im Krieg befindet. Denn so herzlich, wie die Menschen uns begegnen, fühlen wir uns sofort willkommen.

Auf der ukrainischen Seite wirkt alles noch sehr improvisiert. Ich hoffe, dass das so bleibt, damit die Zäune und Barrikaden nicht zu einem festen Bestandteil dieses Grenzübergangs werden. Schengen liegt in Luxemburg, und doch sollte es auch hier sein. Keine Stunde später sind wir in Lemberg, drei Stunden früher als der Bus, den wir verpasst haben. Ungewollt haben wir alles richtig gemacht, selbst der riesige grüne Koffer hat in den Kleinbus gepasst.

Lebendiges Lemberg

Schließe die Augen und stelle dir vor, wie eine in Mitteleuropa liegende Stadt vor dem Zweiten Weltkrieg ausgesehen haben könnte. Öffne die Augen und du siehst Lemberg. Ich habe immer gedacht, dass es damals völlig zerstört worden wäre, aber das ist nicht der Fall. Sicher gibt es das eine oder andere Gebäude aus der Sowjetzeit oder danach, und auch die Straßenbahnen sind irgendwann hinzugekommen, ruckeln sie doch seit etwa sechzig Jahren durch die Stadt. Durch all das fühlt man sich in eine andere Zeit versetzt, wenn da nicht bis auf ein paar verrostete Ladas die vielen modernen PKWs wären, die – sofern sie den ständigen Staus entkommen können – über das vollständig erhaltene Kopfsteinpflaster rasen.

Das Zentrum Lembergs ist alt, die Stadt wirkt überfordert, aber sie ist so unglaublich lebendig, wie man es sich von westeuropäischen Städten auch wünschen würde. Hier wohnt man noch mittendrin.

Martin Schult

Deswegen ist Lemberg laut, deswegen fahren die Miet-Elektroroller auf den Bürgersteigen, deswegen wird das Fahrrad in naher Zukunft wohl kaum Chancen haben, sich als Verkehrsmittel durchzusetzen. Das Zentrum Lembergs ist alt, die Stadt wirkt überfordert, aber sie ist so unglaublich lebendig, wie man es sich von westeuropäischen Städten auch wünschen würde. Hier wohnt man noch mittendrin. Hier wurden nur wenige Altbauten in Repräsentationshäuser für Anwaltskanzleien oder Arztpraxen umgewandelt. Hier geht man noch zu Fuß.

Neben den vielen kriegsversehrten Männern, die im Rollstuhl sitzen oder Prothesen tragen, fallen mir vor allem die Jugendlichen auf. Man hat mir erzählt, in Kiew würden die Gesichtschirurgie und die Schönheitssalons boomen, um sich mit ihrer Hilfe aus der trüben Realität fortzaubern zu lassen. Und auch hier in Lemberg sieht man die neueste Mode und das ein oder andere Piercing. Doch jeder junge Mensch hat hier auch etwas Praktisches an sich – keine High Heels oder zu enge Klamotten, in denen man nicht laufen kann. Ich frage Irina Klymenko, die uns durch die Stadt führt. Sie überlegt einige Zeit, bis sie mir zustimmt. Ob bewusst oder unbewusst, man kleidet sich hier – auch – für den Notfall.

Jahrelang hat Irina Klymenko an der LMU in München gearbeitet. Seit Anfang des Jahres leitet sie das neue "Forschungszentrum Ukraine" der Max Weber Stiftung, das zukünftig an der internationalen Geschichtsforschung mitwirken will. René Feldmann filmt sie und Karl Schlögel, wie sie durch die Straßen laufen und sie ihm davon erzählt, wie wichtig es für die Ukraine ist, Teil der modernen Welt zu sein und nicht durch den Krieg abgehängt zu werden. Das betrifft die Wissenschaften, die Wirtschaft, die Bildung und die Kultur, aber auch das Erbe, das die Jahrhunderte voller Geschichte hinterlassen haben. So alt die Stadt ist, die Menschen sind es nicht. Sie blicken nach vorn, indem sie auch zurückschauen.

Fast jede Nacht Luftalarm

Irina Klymenko zeigt uns die Synagoge, die als einzige den Judenhass überlebt hat. Sie führt uns durchs jüdische Viertel (über 100.000 Juden haben in den 1930er Jahren in Lemberg gelebt), promeniert mit uns einen Boulevard entlang, an dessen Ende das imposante Opernhaus liegt, und wir gehen durch Stadtviertel mit wunderschönen Wohnhäusern aus der Gründerzeit, deren Bewohner:innen man nur beneiden kann.

Abends nehmen wir an einer Konferenz teil, die im Gebäude eines ehemaligen Radio­senders stattfindet. Es wurde von der UNESCO restauriert und dient nun dem intellektuellen Austausch. Ein Konferenzteilnehmer ist der amerikanische Journalist Adam Hochschild. Was er und seine Frau, die als Soziologin an der Berkeley University arbeitet, über Trump erzählen, ist verstörend. Aber sie reden mit einer gewissen Distanz darüber, so als wäre das heutige Amerika Schauplatz eines dystopischen Hollywoodfilms, von dem sie trotzdem erwarten, dass er mit einem Happy End endet.

Es ist wichtig, so etwas hier in Lemberg zu hören. Denn auch hier erliegt man schnell der Illusion, dass der Krieg gar nicht da wäre. Es ist ruhig, selbst wenn fast jede Nacht Luftalarm ist. Die Lemberger:innen nutzen mehrere Apps, die zeitgenau mitteilen, wo die Bomben einschlagen werden – meistens im Osten der Ukraine. Deswegen geht man nicht voreilig in den Keller, deswegen verschlafen viele – so wie ich – auch den heutigen Alarm um fünf Uhr morgens.

Karl Schlögel aber hört ihn. Als einziger Hotelgast geht er in den als Schutzraum dienenden Weinkeller. Doch statt sich darüber zu grämen, so früh am Morgen geweckt worden zu sein, erfreut er sich an der Sammlung unterschiedlichster Jahrgänge. Das Hotel Swiss ist nicht groß, hat aber eine lange Tradition, die gepflegt wird. Man ist gerne hier. Auch hier ruft es K-u-K.

Karl Schlögels Liebe zu den Menschen

"En dan was er Hildo Krop." So beginnt die Biographie über einen niederländischen Künstler, der über Jahrzehnte als von der Stadt Amsterdam angestellter Bildhauer mit seinen wunderbaren Skulpturen Brücken, Fassaden und vieles mehr verschönerte. Nüchternen Nutzbauten hauchte Hildo Krop Leben ein und betonte somit seine Vorstellung vom Sinn und Zweck der Architektur: Sie möge dem Menschen dienen und nicht dem Mammon.

"Und dann war da Karl Schlögel." So könnte auch eine Biographie über den diesjährigen Friedenspreisträger beginnen, der seit Jahrzehnten den deutschen Lesern die im Osten liegenden Städte und Länder näherbringt. Aus seinen Texten sprechen nicht nur eine große Neugier und die künstlerische Fähigkeit, das Gesehene in Worte zu verwandeln, sondern vor allem auch seine Liebe zum Menschen. Geschichte an der Gegenwart reiben und ihre Auswirkungen an den Menschen spiegeln – Schlögel hat seiner Wissenschaft eine neue Perspektive hinzugefügt.

Während unserer Reisetage und hier in Lemberg kann ich immer wieder beobachten, wie dieser auf den ersten Blick so zurückhaltende Mann die Herzen der Menschen öffnet und ihre Zungen lockert – nicht nur bei Irina Klymenko, Adam Hochschild oder bei Juri Durkot, dem wir am zweiten Tag begegnen, sondern auch bei Mitreisenden oder gar einem Busfahrer, dem er über eine Stunde neugierig zuhört, wie dieser Menschenfeindliches von sich gibt, uns aber gleichzeitig uneigennützig bei der Rückreise hilft. Ich bewundere Karl Schlögels Aufgeschlossenheit und Aufrichtigkeit. Mit seinem "Ach ja?" auf Deutsch, Polnisch, Russisch oder Ukrainisch nimmt er die Menschen und ihre Geschichten ernst. Er muss nicht widersprechen, wenn er es aber doch tut, dann als Teil des Gesprächs und nicht als Stoppschild.

Eines der vielen unvergessen bleibenden Erlebnisse auf der Reise ist der Besuch des ältesten Antiquariats in Lemberg – ein kleiner Raum in einer Seitenstraße mit zahlreichen auf kyrillisch gedruckten Werken. Man zeigt uns aber auch eine alte Ausgabe von "Ueber den Umgang mit Menschen" von Adolph Knigge, dritte Auflage aus dem Jahr 1790, gedruckt in Hannover. Karl Schlögel strahlt, als er durch das Buch blättert und erklärt, dass der Knigge mehr sei als nur ein Leitfaden, wie man sich zu benehmen habe. Knigge habe vielmehr die Würde der Menschen in den Mittelpunkt gestellt. Damit man sich gleichberechtigt begegne, müsse man sich entsprechend verhalten – ein aufklärerisches Werk, das oft unterschätzt werde.

Dem Bruder im Geiste folgend ist es auch Karl Schlögels Anliegen, ja vielleicht sogar eine Verpflichtung, sich dem Anderen zu öffnen und ihn und seine Ansichten und Erlebnisse in sich aufzunehmen. Manchmal wird das aber auch zur Last, denkt man an seinen Auftritt bei Anne Will kurz nach dem Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine. Als würde er persönlich dafür verantwortlich sein, entschuldigt er sich bei den Zuschauer:innen, weil er diesen Angriff nicht für möglich gehalten habe.

Schnell wachsender Friedhof

Diese Last ist ihm auch beim Besuch des Marsfelds beim Lytschakiw-Friedhof anzusehen, dem angeblich schönsten Friedhof Europas. Hier liegen die im Krieg getöteten Lemberger Soldaten. Fahnen, Blumen und Erinnerungsstücke schmücken die Gräber. An den Holzkreuzen sind Fotografien der so jung verstorbenen Männer und Frauen angebracht, auf denen die meisten in die Kamera lächeln – nicht überheblich, sondern mit stillem Ernst.

Etwa tausend Menschen liegen hier auf diesem Friedhof, der schneller wächst als jeder andere in Lemberg. Den Sterbedaten kann man ablesen, wann der Krieg besonders heftig getobt hat. Was in der Stadt kaum zu spüren ist, dem kann man sich hier nicht entziehen – die Grausamkeit des menschenverachtenden Angriffskriegs der russischen Armee.

Natürlich liegt auf dem Marsfeld auch ein Nationalstolz in der Luft, der mir und sicher vielen anderen Deutschen eher fremd ist. Doch wenn man an den Gräbern entlangschlendert, spürt man, dass die hier Begrabenen ihr Leben geopfert haben, um die Freiheit zu verteidigen.

Martin Schult

Nicht nur Karl Schlögel, sondern wir alle leiden angesichts dieser tausendfachen Tragödie. Und als wir zufällig auch noch einem Begräbnis beiwohnen, zweifelt selbst unser sonst so unerschrockener Kameramann, ob er diese Szene wirklich filmen soll. Eine Militärkapelle begleitet die von zwei Geistlichen durchgeführte Zeremonie. Die Familien können selbst entscheiden, ob ihre Söhne und Töchter hier oder auf einem normalenFriedhof begraben werden.

Natürlich liegt auf dem Marsfeld auch ein Nationalstolz in der Luft, der mir und sicher vielen anderen Deutschen eher fremd ist. Doch wenn man an den Gräbern entlangschlendert, spürt man, dass die hier Begrabenen ihr Leben geopfert haben, um die Freiheit zu verteidigen. Ukraine heißt übersetzt Grenzland. Über die Jahrhunderte stand sie immer wieder unter der Vorherrschaft anderer. Wieder einmal kämpft sie um ihr Überleben.

An diesem Tag begleitet René Feldmann mit seiner Kamera Karl Schlögel und Juri Durkov, Schriftsteller und einer der Übersetzer:innen von Serhij Zhadan. Sie folgen den weiteren Spuren, die der Krieg in der Stadt hinterlassen hat. Man mag es kaum glauben, aber während des nun mehr als drei Jahre andauernden russischen Angriffskriegs wurde mehr in Lemberg zerstört als im gesamten Zweiten Weltkrieg.

Wir schauen uns ein Wohnhaus an, das am 4. September 2024 getroffen wurde. Während des Luftalarms kehrte der hier wohnende Familienvater nochmal kurz in die Wohnung zurück, um Wasser zu holen. Die Rakete schlug im Treppenhaus ein, in dem seine Familie, seine Frau und die drei Kinder, auf ihn wartete.

"Bei Luftalarm sollte man ein Treppenhaus meiden", erzählt Juri Durkot. "Denn wenn es getroffen wird, fällt es wie ein Kartenhaus zusammen." In der Wohnung blieb der Vater am Leben, seine Familie und drei weitere Bewohner starben auf den Treppenstufen, die sie in den sicheren Schutzkeller führen sollten. Es ist viel, vielleicht sogar zu viel, was wir an diesem Tag erleben.

Der Bus, mit dem wir zurück ins polnische Przemysl fahren, hält vier Kilometer vor der Grenze an einem Rastplatz mit Tankstelle, Café und Lebensmittelladen. Wir vermuten eine Pinkelpause, bevor es weiter zur Grenze geht, doch wir werden eines Besseren belehrt. Fünfzehn Busse sind noch vor uns dran. Als wir erfahren, dass pro Stunde nur einer von ihnen die Grenze passieren darf, macht sich Verzweiflung breit. Die Rückreise nach Berlin scheint gefährdet. Unser Ausflug nach Lemberg droht zu einem Roadmovie zu werden, zu einer Reise, die man auf dem Papier zwar planen kann, bei der die Realität uns aber ständig ein Schnippchen schlägt.

Doch Karl Schlögel handelt. Gemeinsam mit unserem Busfahrer geht er zum vordersten Bus und überredet dort den Fahrer, uns die vier Kilometer bis zur Grenze mitzunehmen. Jeder ist hilfsbereit und lässt bei uns nicht eine Sekunde das Gefühl aufkommen, wir würden uns vordrängeln. Nur kurz herrscht Ratlosigkeit, ob der riesige grüne Koffer von Stefan Gagstetter noch in den Bus passt.

"Was schleppst du da eigentlich die ganze Zeit mit?", fragen wir ihn endlich. Schutzhelm und Schutzweste, gibt er zögernd zu. Er habe sie mitnehmen müssen, weil sein Arbeitgeber aus Versicherungsgründen darauf bestanden habe. Kurz stellen wir uns vor, wie wir ausgesehen hätten, wenn wir als einzige in ganz Lemberg mit diesen Leben schützenden Utensilien durch die Straßen gelaufen wären.

Willkommen im Schengenraum

Als wir schließlich losfahren und den Kontrollpunkt erreichen, gehen wir ein weiteres Mal zu Fuß über die Grenze und lassen unsere Pässe stempeln. Kurz sind wir über die bevorzugte Behandlung bei der polnischen Kontrolle irritiert. Vorbei an Hunderten von wartenden Ukrainer:innen stellen wir uns an der kurzen Schlange derjenigen an, die im Besitz eines EU-Passes sind. Willkommen im Schengenraum. Wir steigen in zwei Taxis. Zehn Minuten später sind wir in Przemysl, wie bei der Hinfahrt sehr viel früher als geplant.

14 Stunden mit Zug, Bus und Taxi, so lange dauert heutzutage eine Reise von Berlin nach Lemberg. Vor dem Krieg betrug die Flugzeit nicht einmal zwei Stunden, und vom Gefühl her sind die dort lebenden Menschen uns sogar noch näher – vielleicht bis auf die Soldaten, bei denen es droht, dass sie sich angesichts der nicht zu beschreibenden Erlebnisse an der Front von der Normalität entfernen. Die Ukraine tut vieles, um das zu verhindern oder zumindest zu lindern. Noch einfacher wäre es, wenn die russischen Soldaten den Krieg beenden und sich aus dem Land zurückziehen. Sie haben kein Recht, dort zu sein.

Am nächsten Morgen, im Zug nach Berlin, kann ich Karl Schlögel ansehen, wie das Erlebte in ihm arbeitet. Ich weiß, dass ihm die Reise hilft, weiter an seiner Rede zu arbeiten, die er am 19. Oktober in der Frankfurter Paulskirche halten wird. So anstrengend dieser kurze Trip nach Lemberg auch gewesen ist, die Vergewisserung, dass man das Richtige tue, wenn man die Ukraine unterstützt, wiegt alles andere auf.

Karl Schlögels Reise nach Lwiw