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Der Junge aus Jerusalem

© Cordula Giehse

Voller Fantasie, doch keineswegs naiv: So begegnet der israelische Schriftsteller David Grossman, der am 25. Januar 2024 siebzig Jahre alt wird, den Leser:innen in seiner Literatur und setzt sich – trotz allem – für eine friedliche Lösung im israelisch-palästinensischen Konflikt ein. Martin Schult gratuliert dem Friedenspreisträger von 2010.

Im Mai 1967 verkündet der damalige ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser, alle Juden ins Meer werfen zu wollen und lässt Zehntausende von Soldaten auf der Sinai-Halbinsel aufmarschieren. Israel entscheidet sich für einen Präventivangriff und beendet den Krieg nach nur sechs Tagen mit einem Sieg.

Die Juden ins Meer werfen ist als Drohung geblieben. Der deutsch-ägyptische Politologe Asiem El Difraoui berichtet von einem Besuch in Ramallah, als jüdische Siedlerkinder, bewacht von Soldaten, auf palästinensische Kinder treffen, mit ihren Holzgewehren auf sie zielen und schreien: »Tod den Arabern, wir bringen euch alle um!« Die palästinensischen Kinder nehmen Steine in die Hand und rufen: »Tötet die Juden! Treibt sie ins Meer!«

1967 sorgt diese Drohung aber auch dafür, dass ein Junge aus Jerusalem beschließt, Schwimmen zu lernen. Dafür geht er ins YMCA-Gebäude, das von dem amerikanischen Architekten Arthur Loomis Harmon entworfen wurde, der auch das Empire State Building in New York gebaut hat. Hier gibt es das einzige Schwimmbad der Stadt, hier lernt er schwimmen, hier merkt er, dass man gegen seine Ängste etwas tun kann.

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Diese Geschichte zeigt, wie die oft bedrohliche Realität die Fantasie des Jungen weckt. David Grossman lernt arabisch und studiert Philosophie und Theaterwissenschaften. Nebenbei arbeitet er als Nachrichtenredakteur, Hörspielautor und -sprecher beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk des Landes und ist von 1970 bis 1984 für eine erfolgreiche Kindersendung verantwortlich. Hier wird auch »Ein spätes Duell« als Hörspiel aufgeführt, bevor es als Kinderbuch erscheint.

Schon vor seinem Universitätsabschluss im Jahr 1979 schreibt er Kurzgeschichten und veröffentlicht 1983 mit »Das Lächeln des Lammes« (dt. 1988) seinen ersten Roman. Die Geschichte über drei Israelis und einen alten Araber spielt vor dem Hintergrund der besetzten Gebiete und wird aufgrund seiner Direktheit und Intensität von der Kritik gelobt.

Mit dem 1986 erscheinenden Roman »Stichwort: Liebe« (dt. 1991) über die zweite nachfolgende Generation der Opfer der Shoah, in dem er mit den Mitteln der Groteske, des Märchens und des Fantastischen das Unfassbare zu beschreiben versucht, belebt er die Diskussion darüber, ob und wie die Shoah literarisch zu verarbeiten sei. Der Roman und die Veröffentlichung seiner Reportagen-Sammlung »Der gelbe Wind« (1987, dt. 1988) über das Verhältnis zwischen Israelis und Arabern machen ihn weltweit bekannt.

Als er sich 1988 weigert, seinen Bericht über die Unabhängigkeitserklärung der Palästinenser zensieren zu lassen, bei der Jassir Arafat erstmals indirekt von einem Existenzrecht Israels spricht, wird er von seinem Arbeitgeber fristlos entlassen. Fortan konzentriert er sich ganz auf die Schriftstellerei und veröffentlicht in den folgenden Jahren weitere Romane, aber auch zahlreiche Kinder- und Jugendbücher, in denen der Junge aus Jerusalem wie in »Zickzackkind« seiner Fantasie freien Lauf lässt.

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Mit seiner Literatur und seinem politischen Engagement für einen dauerhaften Frieden wird David Grossman international bekannt und mit vielen Auszeichnungen geehrt. Während er an einem Roman arbeitet, der von einer Frau und ihrem verzweifelten Versuch erzählt, sich und ihr Familienleben vor der harten und gewalttätigen Realität zu schützen, bricht 2006 der Zweite Libanonkrieg aus.

Mit Amos OzAbraham B. Jehoshua und anderen Schriftsteller:innen fordert er eine Waffenruhe. Einige Tage später wird sein Sohn Uri von einer Rakete der Hisbollah getötet. Diese furchtbare Erfahrung fließt in den Roman mit ein. »Eine Frau flieht vor einer Nachricht« (2008, dt. 2009) wird als sein epochales Hauptwerk bezeichnet, da er die Erlebnisse der Frau auf der Reise durch Israel mit ihren Erinnerungen und den politischen Ereignissen verbindet und auf eindrückliche Weise zeigt, wie das Schicksal der Menschen in Israel unauflöslich mit Politik und Krieg verbunden ist.

»Ich stehe hier und rede mit Ihnen über Frieden«, sagt er 2010 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche. »Ist das nicht merkwürdig? Ich, der ich in meinem ganzen Leben noch keinen Augenblick wirklichen Friedens erlebt habe. Doch ich weiß etwas über Krieg. Deshalb denke ich, habe ich das Recht, hier über Frieden zu reden …«, und sich weiterhin für ihn und eine Zweistaatenlösung einzusetzen.

Weitere Romane folgen, die Grossmans Bedeutung für die Literatur in Israel wie in der ganzen Welt festigen. »Aus der Zeit fallen« (2013), »Kommt ein Pferd in die Bar« (2016, mit dem Man Booker International Prize ausgezeichnet) und »Was Nina wusste« (2020), allesamt von Anne Birkenhauer ins Deutsche übersetzt, sind Zeugnisse, wie der Junge aus Jerusalem sich in die Protagonist:innen seiner Romane hineinversetzen kann, seien sie erfunden und böse - oder realen Menschen nachempfunden.

Die Welt, wie er sie sieht, ist eine Mischung aus bitterer Realität, der man sich stellen muss, und Fiktion, in die man sich mitunter auch mal flüchten kann.

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Am 7. Oktober 2023 überfällt die Hamas Israel, tötet über 1200 Israelis – die meisten einfache Bürger*innen – und verschleppt Hunderte als Geiseln. Israel antwortet mit einer Militäraktion, besetzt den Gazastreifen, verfolgt die Hamas, versucht, die Geiseln zu befreien oder einzutauschen. Die Brutalität, mit der die Armee mitunter vorgeht, wird von vielen als unverhältnismäßig kritisiert, Präsident Netanyahu, dessen persönliches Schicksal auch vom Erfolg dieser Invasion abhängt, zeigt sich unnachgiebig.  

Alles, wofür Grossman sich eingesetzt hat, scheint in weite Ferne gerückt. Die Aussicht auf Frieden und Freiheit für beide Seiten geht gegen Null. Doch er weigert sich, das einfach so hinzunehmen. In seinem Artikel »Nach dem Schwarzen Schabbat« schreibt er über den brutalen Angriff der Hamas und was er für ihn und sein Land bedeutet.

»Die Gräueltaten dieser Tage sind nicht Israel zuzuschreiben. Sie gehen aufs Konto der Hamas. Wohl ist die Besatzung ein Verbrechen, aber Hunderte von Zivilisten zu überwältigen, Kinder, Eltern, Alte und Kranke, und dann von einem zum anderen zu gehen und sie kaltblütig zu erschießen – das ist ein viel schwereres Verbrechen. Auch in der Hierarchie des Bösen gibt es eine Rangordnung, gibt es vom gesunden Menschenverstand und vom natürlichen Gefühl zu unterscheidende Schweregrade.«

Und doch bleibt er seinen Überzeugungen treu, dass ein Frieden nur gemeinsam möglich ist: »Die letzten Tage haben gezeigt, dass die Tragödie im Nahen Osten ohne gleichzeitige Linderung des palästinensischen Leids nicht zu bewältigen ist.« Mittlerweile werden es mehr, die sich angesichts der Härte, mit der die israelische Armee gegen die palästinensische Zivilbevölkerung vorgeht, für den Frieden einsetzen – allen voran viele Angehörige der immer noch nicht freigelassenen Geiseln.

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In den nächsten Tagen erscheint im Carl Hanser Verlag mit »Frieden ist die einzige Option« (übersetzt von Anne Birkenhauer und Helene Seidler) ein schmaler Band mit Texten, die David Grossman in den letzten Jahren geschrieben hat. Es beginnt mit seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz, die er 2017 gehalten hat – Ergebnis des Versuchs einer Kooperation zwischen dem Friedenspreis und der Sicherheitskonferenz, die wir letztlich aufgegeben haben, weil sich Politik und Militär – anders als erhofft – nicht auf einen literarischen Kassandra-Blick auf die Konflikte in der Welt haben einlassen wollen.

»Diese Jahre sind vielleicht die letzten, in denen es noch möglich erscheint, ein Abkommen auszuhandeln, das beiden Seiten Sicherheit, Souveränität und Frieden beschert. Die Lage wird von Tag zu Tag explosiver. In der zurzeit vor Ort herrschenden Wirklichkeit werden die Palästinenser niemals eine volle Unabhängigkeit erlangen, und der Staat Israel ist dabei, eigenhändig das Wunder zu zerstören, dem er sein Entstehen als Heimstatt des jüdischen Volkes und als Demokratie verdankt.«

Höhepunkt des Buches aber ist die Trauerrede für die Terroropfer, die er am 16. November 2023 in Tel Aviv gehalten hat, aus der unkommentiert hier zwei Abschnitte wiedergegeben werden:

»Von jetzt an wird alles – oder fast alles – mit Schmerz beladen sein, wird alles Erleben binär werden: Null oder Eins. Sein oder Nichtsein. Tief im Inneren werden wir ihrer gedenken, der geliebten Verlorenen. Aber wir werden sie nicht erstarren lassen. Erstarren, Versteinerung bedeutet Tod, in der Bewegung aber liegt Leben.

Wir werden uns an ihre Gesichter erinnern, an ihr Mienenspiel, an ihre Freudenbekundungen, an den lebendigen Fluss ihrer Bewegungen, an ihr Lachen, an ihr Leid. An ihre Stimmen, an das Blitzen ihrer Augen. An Menschen und Dinge, die sie wertzuschätzen wussten. […]

Die Zukunft hält für uns alle schwere Prüfungen bereit. Einige bestehen wir bereits heute. Das zeigt sich in den Manifestationen wunderbarer, kreativer Staatsbürgerschaft. In der mitreißenden Solidarität. In der massiven zivilen Mobilmachung, mit der die Bevölkerung zu reparieren versucht, was die Regierung zerbrochen hat.

Trotz allem, was geschehen ist, steigt in uns die Ahnung auf, es könnte nun möglich sein, zum zweiten Mal einen neuen Staat aufzubauen – gemeinsam mit euch, den Bewohnern der Städte und Gemeinden, der Kibbuzim und Moschawim. Mit euch, eurer Kraft, eurem Mut könnte uns ein ganz neuer Anfang gelingen.«

 

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Dass ich David Grossman manchmal als Jungen aus Jerusalem bezeichne, liegt an seinem ungebrochenen Humanismus, seinem fürsorglichen Charakter, aber auch an seiner kindlichen Fantasie, die er sich bewahren konnte.

Als wir uns im Sommer 2010 in Jerusalem treffen, um über die Rede für die Friedenspreisverleihung zu reden, einen Laudator auszuwählen (Joachim Gauck, den er da persönlich noch nicht kennt, mit dem er aber nun gut befreundet ist) und die Reise von ihm und seiner Frau Michal nach Deutschland zu planen, schimpft er mit mir, weil ich mit meiner Frau – im unglaublich heißen August – ans Tote Meer gefahren bin. »Stell Dir doch bloß mal vor, was alles hätte passieren können!«

Ein paar Monate später reicht sein Vorstellungsvermögen aber nicht mehr aus. Direkt nach der Preisverleihung mit stehenden Ovationen und langanhaltendem Beifall nimmt der Junge aus Jerusalem mich voll Begeisterung in den Arm. »Nie im Leben hätte ich gedacht, wie unglaublich das alles ist.«

Unglaublich aber ist David Grossman selbst. Am 25. Januar wird er 70 Jahre alt. Er hätte es verdient, dass die Welt ihn feiert. Aber er hat keine Zeit dafür, gilt es doch, die kleine Chance auf Frieden aufrechtzuerhalten und das Land, sein Land, aus dieser Krise herauszuholen, den Menschen dort zu helfen, Traumata zu verarbeiten und schwimmen zu gehen, ohne daran zu denken, warum man es einmal gelernt hat.

Masel tov und alles Gute zum Geburtstag, lieber David!

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