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Amartya Sen mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2020 ausgezeichnet

© Geraint Lewis

Der indische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen ist heute mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausge-zeichnet worden. Die Verleihung in der Frankfurter Paulskirche fand pandemiebedingt ohne geladene Gäste statt. Amartya Sen wurde live aus den USA zugeschaltet. Die Laudatio von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der sich am Vortag der Verleihung in Quarantäne begeben musste, wurde durch Schauspieler Burghart Klaußner verle-sen.

In seiner Dankesrede rückte Amartya Sen die Bedeutung der Meinungsfreiheit und der Debatte für Freiheit, Frieden und Fortschritt in den Mittelpunkt und warnte vor deren zunehmender Gefährdung durch autokratische Systeme. Bücher übernähmen eine wichtige Rolle beim Schaffen einer Gesprächs- und Streitkultur: „Bücher zu lesen – und über sie zu sprechen – kann uns unterhalten, amüsieren, aufregen und unser Interesse für alle möglichen Dinge wecken. Bücher helfen uns auch, miteinander zu streiten. Und nichts ist meiner Meinung nach so wichtig wie die Möglichkeit, über Dinge zu streiten, bei denen wir möglicherweise uneins sind.“

Den Streit als Möglichkeit, seine eigene Meinung kundzutun und die der anderen anzuhören, beschrieb Sen als fundamental für die Zuschreibung von Sinn – und zugleich als stark gefährdetes Gut: „Wenn die Redefreiheit beschnitten wird und Menschen dafür bestraft werden, dass sie ihre Meinung sagen, können wir in dem Leben, das wir führen können, schweren Schaden erleiden. Leider gehört die erhebliche Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht der Vergangenheit an, und es gibt immer mehr Länder, in denen autoritäre Entwicklungen die Freiheit zu widersprechen schwieriger – oft viel schwieriger – machen als früher. Die repressiven Tendenzen in vielen Ländern der heutigen Welt – insbesondere in Asien, in Europa, in Lateinamerika und innerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika – geben Anlass zur Sorge. Mein eigenes Land, Indien, gehört ebenfalls in diesen beklagenswerten Korb.“

Anhand von Beispielen aus Ländern wie Indien, den Philippinen, Ungarn oder Brasilien legte er dar, wie Regierungen auf unterschiedliche Weise Teile der Gesellschaft unterdrücken und in ihren Rechten beschneiden. In dieser gesellschaftlichen Spaltung sieht er großen Grund zur Sorge: „Der Autoritarismus verhängt direkte Strafen gegen Menschen; dazu gehören die Verletzung der persönlichen Freiheit und der politischen Freiheitsrechte. Darüber hinaus aber hängt der soziale Fortschritt in hohem Maße von menschlicher Kooperation ab, und eine Spaltung der Gesellschaft durch autokratische Asymmetrien und durch die Verfolgung missliebiger Gruppen kann die gemeinsame Arbeit für den Fortschritt um ein Vielfaches schwieriger machen. Ich will keineswegs behaupten, dass in einem autoritären System niemals je sozialer Fortschritt erreicht werden kann. Das ist manchmal durchaus möglich, aber tendenziell wird der Fortschritt ernsthaft behindert, wenn Streit und kritische Diskussionen verboten und die Interessen einiger Menschen beharrlich ignoriert werden.“

Er sagte: „Die Welt ist heute mit einer Pandemie des Autoritarismus konfrontiert, die das menschliche Leben auf je unterschiedliche, aber zusammenhängende Weise in Mitleidenschaft zieht. Angesichts unserer globalen Verbindungen und der Bedeutung unseres gemeinsamen Menschseins gibt es allen Grund, uns nicht nur um unser eigenes Land, sondern auch um andere ernsthaft Sorgen zu machen und uns für Probleme überall auf der Welt zu interessieren.“ Und so schloss er mit einem Appell: „Heute ist gesellschaftlich kaum etwas dringlicher geboten als globaler Widerstand gegen den zunehmenden Autoritarismus überall auf der Welt. Der notwendige Widerstand kann auf vielerlei Art erfolgen, aber mehr Lesen, mehr Reden, mehr Streiten sollten ohne Zweifel Teil dessen sein.“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigte Amartya Sen in seiner Laudatio als moralische Instanz, als Kämpfer für globale Gerechtigkeit und als Demokraten. Er betonte die zentrale Rolle, die Demokratie in Sens Vorstellungen von Gerechtigkeit und Freiheit einnimmt und verwies auf den immerwährenden Wettstreit politischer Systeme bei der Beantwortung der zentralen Fragen unserer Zeit: „Für Sen gibt es echte Gerechtigkeit auch nicht ohne politische Freiheit und politische Freiheit nicht ohne Demokratie. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Demokratie ist für ihn darum auch kein Luxusartikel für reiche Länder und auch nicht nur normatives Projekt des Westens. Sie ist weltweite Sehnsucht und ein universelles Versprechen. Auch daran erinnern uns die Demonstrantinnen und Demonstranten auf den Straßen von Caracas, Minsk und Hongkong! Der Universalismus der Demokratie und der grundlegenden Menschenrechte – das sind die Eckpunkte der Sen’schen Philosophie. Das ist der Kern einer fundamentalen Erkenntnis, die heute wieder unter Druck steht.“

Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins, bezeichnete Sens Schriften als ein geeignetes Fundament für den Aufbau einer besseren Welt nach Corona: „Sen ist ein Vordenker in Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, als Feminist und als Weltenbürger, der der Weisheit des Ostens eine stärkere Stimme verleiht. Die Lektüre von Amartya Sen kann so etwas sein wie der Polarstern für eine weltoffene, gerechte Gesellschaft. Sie kann Orientierung geben und Ansporn sein. Sie kann helfen, keine faulen Kompromisse zu machen, sondern Wege zu finden, die mutig sind.“

Seit 1950 vergibt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Preisträger waren unter anderem Albert Schweitzer, Astrid Lindgren, Václav Havel, Jürgen Habermas, Susan Sontag, Liao Yiwu, Navid Kermani, Margaret Atwood, Aleida und Jan Assmann und im vergangenen Jahr Sebastião Salgado. Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert.

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