Der Stiftungsrat für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wählt den Journalisten, Politiker und ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland Theodor Heuss zum Träger des Friedenspreises 1959. Die Verleihung findet während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 11. Oktober 1959, in der Paulskirche zu Frankfurt am Main statt. Die Laudatio hält Benno Reifenberg.
Begründung der Jury
Theodor Heuss,
dem liberalen Manne, der ein Leben lang die Würde des Menschen vertrat, dem grossen Schriftsteller, der Vergangenheit und Gegenwart von gefährlichen Ressentiments befreite und den heilen und sauberen Verstand an ihre Stelle setzte, dem redlichen Menschen, der Anmut und Würde mit nobler Geistigkeit verband, und der - ein Vorbild für Viele in schwerer Zeit - Idee und Wirklichkeit in seiner Person und in seinem Werk in Einklang brachte, verleihen wir den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Chronik des Jahres 1959
+++ General Charles de Gaulle wird im Januar 1959 zum Staatspräsidenten der V. Französischen Republik proklamiert. +++ In Kuba übernimmt der Revolutionsführer Fidel Castro im Februar das Amt des Ministerpräsidenten. Im gleichen Monat bestellt das Bundesverteidigungsministerium 96 »Starfighter«. Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet, dass die Bundeswehr mit Atomwaffen der USA ausgerüstet werden darf. +++ Im März erkennt Nikita S. Chruschtschow die Berlin-Rechte der früheren westalliierten Besatzungsmächte an und nimmt das Berlin-Ultimatum von 1958 zurück.
Nachdem Bundeskanzler Adenauer seine im April verkündete Kandidatur für das Bundespräsidentenamt wieder zurücknimmt, wird am 1. Juli Heinrich Lübke zum Bundespräsidenten gewählt. +++ In Bad Godesberg verabschiedet die SPD im November ein neues Grundsatzprogramm. Die sozialistische Arbeiterpartei wird zu einer sozialdemokratischen Volkspartei. +++ Im September besucht Chruschtschow den amerikanischen Präsidenten Eisenhower. Die Gespräche der beiden Staatsmänner in Camp David wecken erste Hoffnungen auf eine Entspannung des Konfliktes, da Chruschtschow die friedliche Koexistenz von Ost und West propagiert. Eine Annäherung in der Berlin- und Deutschlandfrage kann allerdings nicht entwickelt werden. +++ In Frankfurt am Main wird im April die »Deutsche Bibliothek« eingeweiht, die bis zu einer Wiedervereinigung Deutschlands die Aufgabe einer Nationalbibliothek erfüllen soll.
In West-Berlin wird nahe der Sektorengrenze der Grundstein zu einem Gebäude des Axel Springer-Verlages gelegt. +++ Der UdSSR gelingt es am 13. September, den ersten Flugkörper auf dem Mond zu landen. +++
Biographie Theodor Heuss
Der am 31. Januar 1884 in Brackenheim geborene Heuss studiert Staatswissenschaften und Kunstgeschichte und arbeitet danach als Journalist. 1912 wird er Chefredakteur der Neckarzeitung und redigiert zudem die Kunst- und Kulturzeitschrift März.
1919 tritt er der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bei und sitzt von 1924 bis 1928 als Abgeordneter im Reichstag. Er veröffentlicht zahlreiche politische Bücher, darunter 1932 ein Buch über Adolf Hitler, in dem er auf die Gefährlichkeit des Nationalsozialismus und seines Führers hinweist.
Nach 1933 muss Heuss seine Dozentenstelle an der Berliner Hochschule für Politik aufgeben. Drei Jahre später erhält er Publikations-verbot, schreibt aber unter dem Pseudonym »Brackenheim« weiter.
Nach 1945 engagiert sich Heuss für den Aufbau eines demokratischen Deutschlands. Er ist Mitbegründer der Demokratischen Volkspartei, die 1948 in der FDP aufgeht. Als Mitglied des Parlamentarischen Rates arbeitet er maßgeblich an der Formulierung des Grundgesetzes mit.
1949 wird er zum ersten Bundespräsidenten gewählt. Heuss trägt dazu bei, dass Deutschland international wieder Anerkennung und Vertrauen gewinnt. Vor allem die unabdingbare Hinwendung zu einer friedlichen Gesellschaft, die er unter anderem als zweimaliger Laudator beim Friedenspreis unter Beweis stellt, und seine zahlreichen Staatsbesuche im Ausland tragen dazu bei, dass sich das internationale Ansehen Deutschlands ändert. Mit Beendigung des Präsidentenamts 1959 widmet er sich vorrangig wieder seiner literarischen Arbeit.
Theodor Heuss stirbt am 12. Dezember 1963 im Alter von 79 Jahren.
Aus der Friedenspreisrede
»Denken Sie, ich habe mein Leben lang das Wort ‚Toleranz’ nicht leiden können, den anderen dulden, vielleicht sogar erdulden: das ist einmal Anmaßung, dann aber hat es auch den Unterton des Schwächlichen, ja Weichlichen gewonnen.
Als ich vor bald zehn Jahren, drüben in Wiesbaden, zu der konfessionellen Problematik zu sprechen hatte, gebrauchte ich das Wort ‚Mut zur Liebe’, und als mich ein Freund vor einigen Wochen fragte, über was ich denn vor den Buchhändlern reden wolle, meinte ich, etwas kokettierend, da wir uns wieder in einem Schiller-Jahr befinden – die rasche Folge der Termine umschreibt ja die Tragik des herrlichen Mannes – wäre es wohl Zeit, auch einmal wieder von Gotthold Ephraim Lessing zu reden. Haben Sie keine Sorge: ich werde das jetzt nicht tun, auch wenn der seit kurzem amtslose Bundespräsident vermutlich so wenig Schlußrufen ausgesetzt ist, wie der amtierende es gewesen – und wir sind ja hier sowieso in einer honorigen Gesellschaft –, aber fast möchte ich meinen und doch auch gewiß hoffen, daß auch eine kommentarlose Nennung dieser großartigen Erscheinung Ihnen sagt, worauf es mir ankommt. Gewiß, ich könnte mir denken, daß es nicht ganz unnütz wäre, einigen avantgardistischen Kunstschriftstellern die Lektüre des ‚Laokoon’ zu empfehlen, um von dem Markt der Sprüche ihnen die Pforte zum reinlichen Denken zu öffnen. Ich will auch nicht von der aufregend lebendigen Dramaturgie, von den Essays, von dem bekennenden und lehrenden Nathan dem Weisen reden, sondern nur Ihren Blick auf den Mann lenken.
Und dann mögen Sie dessen inne werden, daß von ihm ein Licht ausströmt, das die mancherlei Dinge, über die ich vor Ihnen meditierte, durchdringt, erhellt, auch erwärmt; daß das Miteinander von Menschen und von Völkern nicht zu einem Gegeneinander führt – der Frieden ist doch mehr als ein völkerrechtlich umschriebener Staatenzustand –, daß Toleranz auch mehr ist als ein passives, ein ‚duldendes’ Hinnehmen der Gegebenheiten und Sonderlichkeiten, sondern im Geistigen wie im moralischen Raum – das lehrt Lessing – ein Element aktiver Tapferkeit. Ihm zu genügen, und damit dem inneren, dem äußeren Frieden, ist die Frage, die auf den einzelnen, auch den einzelnen von Ihnen zukommt, und in deren millionenfacher Beantwortung ein Volks-, ein Völkerschicksal beschlossen ist.«
Laudator Benno Reifenberg
Bibliographie