Der Stiftungsrat Friedenspreis des Deutschen Buchhandels hat den nigerianischen Schriftsteller Chinua Achebe zum Träger des Friedenspreises 2002 gewählt. Die Verleihung findet während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 13. Oktober 2002, in der Paulskirche statt. Die Laudatio hält Theodor Berchem.
Begründung der Jury
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels ehrt mit dem nigerianischen Schriftsteller Chinua Achebe eine der kräftigsten und zugleich subtilsten Stimmen Afrikas in der Literatur des 20. Jahrhunderts, einen unnachgiebigen Lehrer und Moralisten und vor allem einen großen Erzähler. Er gilt unangefochten als Begründer der authentischen englischsprachigen Romantradition Westafrikas. Sein Stil ist stark geprägt durch die orale Erzählkunst seines Volkes, der er damit ein Denkmal setzt. Achebes zentrales Thema ist, Frieden in Regionen herzustellen, die einem permanenten Kulturkonflikt ausgesetzt sind.
Chronik des Jahres 2002
Mit der Ausgabe der Euro-Banknoten und Euro-Münzen in zwölf europäischen Ländern wird am 1. Januar 2002 die Währungsunion vollendet. +++ Im Februar beschließt der Bundesrat den Ausstieg aus der Atomenergie. Der sogenannte Atomkonsens sieht vor, dass das letzte der 19 deutschen Kernkraftwerke 2021 vom Netz geht. +++ Verteidigungsminister Scharping bestätigt Mitte Februar, dass deutsche Elitesoldaten schon seit Wochen an der Seite des US-Militärs in Afghanistan an Aktionen gegen die Terrororganisation Al-Qaida beteiligt sind. Al-Qaida bekennt sich auch zu einem Bombenanschlag auf eine Synagoge auf der tunesischen Insel Djerba, bei dem im April 19 Menschen getötet werden. +++ Im September, ein Jahr nach Nine-Eleven, den Anschlägen auf das World Trade Center, nennt Osama bin Laden in einem Video erstmals die Namen der Attentäter und preist ihre Taten. +++ Angesichts der Hungersnot in Simbabwe ruft Präsident Mugabe Ende April den Notstand aus. 600 000 Menschen sind bedroht. Die Politik der Vertreibung weißer Farmer hatte zu einem Zusammenbruch der Nahrungsmittelversorgung geführt. +++ Im August erreicht die »Jahrhundertflut« Dresden. Nach einer zweiten Flutwelle steigt der Wasserstand auf Rekordmarken. Die Katastrophe in der Elbregion fordert 20 Todesopfer. Der Schaden wird auf mehr als 20 Milliarden Euro geschätzt. +++ Im Konflikt mit dem Irak, das sich gegen die Inspektion seiner Waffen wehrt, sichert Deutschland im November den USA und anderen NATO-Staaten bei einem Angriff auf den Irak alle Überflug- und Transitrechte zu, will aber keine militärische Unterstützung gewähren. Aufgrund des außenpolitischen Drucks dürfen UN-Waffeninspekteure Ende des Jahres in den Irak einreisen, um nach atomaren, biologischen und chemischen Waffen zu suchen.
Biographie Chinua Achebe
Chinua Achebe, geboren am 15. November 1930 in Ogidi im Osten Nigerias als Sohn eines Katechisten und Lehrers der Church Missionary Society, gehört dem Volk der Igbo an. Nach dem Studium der Anglistik, Geschichte und Theologie am University College in Ibadan arbeitet er beim Rundfunk Nigerias, wo er 1961 zum Direktor des Auslandsdienstes »Voice of Nigeria« ernannt wird.
1958 erscheint mit Things Fall Apart der erste Roman Achebes, der seinen Weltruhm begründet und in mehr als 50 Sprachen übersetzt wurde. In diesem und in den folgenden Romanen beschäftigt sich Achebe vor allem mit den Konflikten, in die das traditionelle Afrika durch den Kontakt zur modernen Welt gerät. Dabei gelingt es ihm, die mündliche Überlieferung als Teil der Erzählstruktur beizubehalten und so einen neuen literarischen Stil zu schaffen.
1966 legt er nach den Massakern an den Igbo sein Amt beim Rundfunk nieder. Als Sonderbotschafter Biafras in Europa und den USA wirbt er während des Biafra-Krieges (1967–70), der über einer Million Menschen das Leben kostet, um Unterstützung für den Freiheitskampf. Nach dem Krieg lehrt er an der nigerianischen Universität Nsukka und ab Mitte der 70er Jahre in den USA. 1971 gründet er die Literaturzeitschrift Okike, eine Plattform besonders für jüngere Autorinnen und Autoren und kritische Reflexion über die gesellschaftliche Rolle von Literatur.
Auch in die politische Diskussion greift Achebe immer wieder ein. Er kritisiert die Korruption, geht auf die Rivalität zwischen den verschiedenen Volksgruppen ein, verweist aber auch stets auf die hundertjährige Entmündigung, die das Land in der Kolonialzeit erfahren habe.
Chinua Achebe stirbt in der Nacht zum 22. März 2013 nach langer schwerer Krankheit im Alter von 82 Jahren in Boston.
Aus der Friedenspreisrede
»Als man die Runde für Fragen aus dem Publikum öffnete, fragte eine Zuhörerin in merklich kampfeslustigem Ton, wie wir auf dem Podium Afrika beschreiben würden. Selbst ein wenig verärgert, antwortete ich ihr: Lesen Sie unsere Bücher!
Wäre ich noch einmal vor diese Situation gestellt, würde ich anders mit ihr umgehen. Ich würde der jungen Frau sagen, dass die Afrikaner in meinen Werken nicht an den Rand des Geschehens verbannt oder in der Landschaft verschwinden würden. Sie wären vielmehr die Triebkräfte unserer Erzählung. Auch ihr Menschsein wäre nicht infrage gestellt. Denn es liegt nicht im Ermessen des Geschichtenerzählers, es zuzuweisen, zu versagen oder zähneknirschend zu gewähren.
Als der große Albert Schweitzer einst erklärte, dass der Afrikaner wahrlich sein Bruder sei, allerdings aber sein jüngerer Bruder, beging er eine ungeheuerliche Gotteslästerung, auch wenn diese Gotteslästerung damals unbemerkt und unerkannt durchging, weil sie eine lange Geschichte hatte und überaus verbreitet war.«
Laudator Theodor Berchem
Theodor Berchem, 1935 geboren, studierte in Genf, Köln und Paris Romanistik, Anglistik und Slawistik. An der Pariser Sorbonne erwarb er 1961 den akademischen Grad eines Licencié ès lettres; 1963 promovierte er dort zum Dr. phil. und habilitierte sich 1966 für romanische Philologie. Von 1967 an war er ordentlicher Professor für romanische Philologie an der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg und von 1976 bis 2003 ihr Präsident. Neben der Lehrtätigkeit und der wissenschaftlichen Arbeit engagierte sich Berchem vor allem in der Hochschulpolitik: Von 1983 bis 1987 war er Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz, seit 1988 ist er Präsident des weltweit tätigen Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Er hat sich beim Zusammenbruch der DDR besonders darum bemüht, die dortigen Wissenschaftler und Studierenden sofort in den internationalen Austausch mit einzubeziehen.
Bibliographie
»Ein Bild von Afrika« Essay Deutsch von Thomas Brückner, Petra Schreyer und Wulf Teichmann Alexander Verlag, Berlin 2.erweiterte Auflage 2002, 196 S.
»Heimkehr in fremdes Land« Aus dem Englischen von Susanne Koehler Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002, 196 S.
»Okonkwo oder Das Alte stürzt« Aus dem Englischen von Dagmar Heusler und Evelin Petzold Edition Suhrkamp, Neue Folge, Band 1138, Frankfurt am Main 12. Auflage 2004, 227 S.
»Der Pfeil Gottes« Aus dem Englischen von M. von Schweinitz, überarbeitet von Gudrun Honke Mit einem Nachwort von Thomas Brückner Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2.Auflage 2002, 294 S.
»Termitenhügel in der Savanne« Aus dem Englischen von Susanne Koehler Edition Suhrkamp, Neue Folge, Band 1581, Frankfurt/Main 1989, 260 S.
»Zwölf Gedichte« (Sonderdruck zu Chinua Achebes 60. Geburtstag) Zeichnungen von Obiora Udechukwu Herausgegeben von Ulli Beier und Heinrich Bergstresser; übersetzt von Ulli Beier Bumerang-Verlag, Bayreuth 1990, 28 S.