Der Stiftungsrat Friedenspreis des Deutschen Buchhandels hat den ungarischen Schriftsteller Péter Esterházy zum Träger des Friedenspreises 2004 gewählt. Die Verleihung findet während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 10. Oktober 2004, in der Paulskirche statt. Die Laudatio hält Michael Naumann.
Begründung der Jury
Mit Péter Esterházy ehrt der Börsenverein einen Schriftsteller, der als eine weithin vernehmbare Stimme der Nachgeborenen die Zerstörung des Menschen durch Terror und Gewalt und seine Wiederauferstehung in Trauer und Ironie gestaltet.
In ‚Harmonia Cælestis’ und der zugehörigen ‚Verbesserten Ausgabe’ hat er die Last der Wahrheit auf sich genommen, die Verstrickungen und die prototypische Schuld der Menschen des geschichtsmächtigen alten Kontinents in gedächtnisfähige Bilder und Gestalten verwandelt. Sein Mut zum offenen Bekenntnis und zur poetisch-heiteren Beschreibung der Tragödie setzt der europäischen Depression einen Kontrapunkt.
So hat der Jüngste der ‚Joyceianer’ nicht nur seine Heimat (Ungarn) in der Mitte Europas, sondern Europa in der Mitte der Literatur neu situiert.
Chronik des Jahres 2004
Im Jahr 2004 werden in zahlreichen Ländern der Erde Attentate verübt, deren Opfer vor allem Zivilisten sind. In der Moskauer U-Bahn sterben am 6. Februar bei einem von tschetschenischen Attentätern begangenen Bombenanschlag 41 Menschen. Anfang März kommt es während des schiitischen »Aschura-Festes« im Irak in Bagdad und Kerbela zu Bombenanschlägen, bei denen mehr als 270 Menschen sterben. In Madrid werden bei einer Serie von Attentaten durch ein der Al-Qaida nahestehendes Terrorkommando auf das Eisenbahnnetz am 11. März 191 Menschen getötet, etwa 1500 werden verletzt. + + + In Beslan / Nordossetien überfallen im September tschetschenische Terroristen eine Schule und nehmen Kinder, Eltern und Lehrer als Geiseln. Bei der Befreiungsaktion durch russische Sicherheitskräfte sterben mehr als 360 Menschen, darunter 172 Kinder. + + + Im Februar räumt US-Präsident Bush öffentlich ein, dass der Irak, entgegen den Behauptungen von Geheimdiensten, keine Massenvernichtungswaffen besaß. Die US-Armee gerät im Laufe des Jahres durch Misshandlungen von irakischen Häftlingen im Gefängnis von Abu Ghoreib immer stärker in die Kritik. Mit 136 getöteten Soldaten im Irak ist der November der bislang blutigste Monat für die Streitkräfte der USA. + + + Israels Ministerpräsident Sharon kündigt Anfang Februar die Räumung aller israelischen Siedlungen im Gazastreifen an. Gleichzeitig lässt er Sperrmauern auf palästinensischem Boden errichten, deren Abriss im Juli von der UNO-Vollversammlung verlangt wird. + + + Am 11. November stirbt Jassir Arafat in Paris. Neuer PLO-Chef wird Mahmud Abbas. + + + Horst Köhler wird am 23. Mai von der Bundesversammlung zum neuen Bundespräsidenten gewählt. + + + Aufgrund der zunehmenden Zahl von Menschen, die von Afrika aus nach Europa flüchten, spricht sich Bundesinnenminister Schily im Juli für die Schaffung von Auffanglagern für Asylbewerber in Nordafrika aus. + + + Ein Seebeben im Indischen Ozean mit der Stärke 9,3 auf der Richterskala, mit nachfolgenden verheerenden Tsunami-Flutwellen, verwüstet am 26. Dezember weite Landstriche an den Küsten Thailands, Indiens und Indonesiens. Über 300.000 Menschen sterben, mehr als 100.000 werden verletzt. Etwa fünf Millionen Menschen werden obdachlos.
Biographie Péter Esterházy
Péter Esterházy, geboren am 14. April 1950 in Budapest, stammt aus einer alten aristokratischen und vermögenden Familie, die nach der Machtergreifung der Kommunisten 1948 enteignet und deportiert wird. Esterházy studiert Mathematik an der Universität Budapest und arbeitet anschließend vier Jahre als Systemorganisator im Ministerium für Hütten- und Maschinenbauindustrie.
Seit 1978 ist er freier Schriftsteller. Péter Esterházy, der zu der postmodernen Generation ungarischer Literaten gezählt wird, wendet sich bereits mit seinem ersten Buch Fancsikó und Pinta (1976) von der Tradition des sozialistischen Realismus ab. Mit seinen vielschichtig angelegten Werken wird er in Ungarn bekannt und von der oppositionellen Literaturkritik des Landes gefeiert.
Internationale Beachtung findet er für den als sein »Opus magnum« bezeichneten Roman Harmonia Cælestis (2000), in dem er die Geschichte der Familie Esterházy als die Geschichte Ungarns und zugleich als die Geschichte seines von den Kommunisten malträtierten Vaters erzählt. Als nach der Veröffentlichung des Buches die Spitzeltätigkeit seines Vaters für das kommunistische Regime bekannt wird, setzt sich Esterházy mit dem Zusatzband Verbesserte Ausgabe (2002), in dem er Dokumente des ungarischen Geheimdienstes mit Tagebuchnotizen und Zitaten aus Harmonia Caelestis konfrontiert, mit dem lange verborgenen Leben des Vaters auseinander, den er liebt, für den er sich schämt, dessen Doppelspiel ihn erschüttert, dessen »andere Geschichte« aber auch zur Geschichte seines Landes und Europas gehört. Péter Esterházy ist am 14. Juli 2016 in Budapest verstorben.
Aus der Friedenspreisrede
Das Entsetzen des Krieges kenne ich nicht, ich kenne nur das Entsetzen des Friedens. Ich bin ein Kind des Friedens, ein Nachkriegsmensch, der noch nie etwas aktiv für den Frieden getan hat. Der von Zeit zu Zeit, was auch eine Frage des Glücks ist, über die Diktatur lachte. In besonders glücklichen Augenblicken auch über sich selbst.
Ich wurde 1950 geboren, quasi post festum. Und wenn ich, sagen wir einmal, davon, wie die Welt 1945 aussah und was damals Deutschland bedeutete, ein Bild haben möchte, wenn ich wissen möchte, wie sich damals die Mischung aus Chaos, Hoffnungslosigkeit und Leichengestank ausnahm, wie das freudlos kalte Entsetzen des Überlebens aussah, ein Bild, aus dem die Natur des Krieges zu entziffern wäre, das Gefühl, fremd und schuldig zu sein, – dann würde ich mich für einen Autor entscheiden, der sicher keinen Friedenspreis bekommen könnte: für Louis-Ferdinand Céline. […] Aber die Sprache der Literatur ist nicht die der Verständigung, sondern die des Schöpferischen. Aus nichts etwas machen – das ist nichts für Gentlemen.
Die Literatur ist kein Haustier, sie ist nicht gezähmt, theoretisch zumindest nicht. Die Literatur ist nicht für Literaturpreise geschaffen. Die Literatur gehört nicht zur Rechtmäßigkeit, nicht zur Toleranz, sondern zur Leidenschaft und zur Liebe. Mit der Liebe aber wird man keine Gesellschaften bilden, dafür ist sie nicht zuverlässig genug.
Die Literatur ist kein Botschafter des Friedens; sollte der Botschafter überhaupt jemandem gehören, dann der Freiheit. Die Freiheit aber will mal den Frieden, mal den Krieg.«
Laudator Michael Naumann
Michael Naumann, 1941 im anhaltinischen Köthen geboren, studiert in München Politische Wissenschaften, Geschichte und Philosophie und promoviert 1969 mit einer Arbeit über Karl Kraus. 1970 wird er, ehe er als Ressortleiter „Ausland“ zum Spiegel wechselt, Redakteur der Wochenzeitung DIE ZEIT und leitet dort 1979 nach einem Forschungsaufenthalt in Oxford und seiner Habilitation in Bochum die erste Dossier-Redaktion.
1985 wird Naumann zum Leiter der Rowohlt Verlage berufen und wechselt 1995 an die Spitze der New Yorker Verlage Metropolitan Books und Henry Holt. Im Oktober 1998 ernennt ihn Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Staatsminister für Kultur und Medien, eine Aufgabe, die er bis November 2000 übernimmt. Dabei setzt er sich insbesondere für die Verteidigung der Buchpreisbindung und die Modernisierung des Stiftungsrechts ein.
2001 wird Michael Naumann als Mitherausgeber und bis 2004 als Chefredakteur der Wochenzeitung DIE ZEIT tätig. 2004 rettet er gemeinsam mit Tilman Spengler das "Kursbuch". Zusammen mit Klaus Harpprecht folgt er Hans-Magnus Enzensberger als Herausgeber der "Anderen Bibliothek". Seit 2010 ist Michael Naumann Herausgeber von "Cicero".
Bibliographie von Péter Esterházy
»Das Buch Hrabals« Roman.
Aus dem Ungarischen von Zsuzsanna Gahse
Residenz Verlag, Salzburg 1991, 196 S., (vergriffen); Berliner Taschenbuch Verlag BVT 0032, Berlin 2004, 208 S., 8,90 €, ISBN 3-8333-0032-9
»Deutschlandreise im Strafraum«
Aus dem Ungarischen von György Burda
Berlin Verlag, Berlin 2006, ca. 112 S., 14,00 €, ISBN 3-8270-0644-9
erscheint 02.2006
»Donau abwärts« Roman.
Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki
Residenz Verlag, Salzburg 1992, 272 Seiten, 23,10 Euro
»Einführung in die schöne Literatur«
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora
Berlin Verlag, Berlin 2006, ca. 864 S., ca. 60,00 € (bis 30.06.2006 48,00 €), ISBN 3-8270-0539-6
erscheint 17.03.2006
»Fancsikó und Pinta«
Aus dem Ungarischen von Zsuzsanna Gahse
Berlin Verlag, Berlin 2002, 128 S., 14,00 €, ISBN 3-8270-0406-3; Berliner Taschenbuch Verlag BVT 0089, Berlin 2004, 144 S., 7,50 €, ISBN 3-8333-0089-2
»Eine Frau«
Aus dem Ungarischen von Zsuzsanna Gahse
Residenz Verlag, Salzburg 1996, 192 S. (vergriffen); Berliner Taschenbuch Verlag BVT 76123, Berlin 2002, 192 S., 8,90 €; ISBN 3-8333-0316-6
»Harmonia Cælestis« Roman.
Aus dem Ungarischen von Terezia Mora
Berlin Verlag, Berlin 2001, 921 S., 34,00 €; ISBN 3-8270-0405-5; Berliner Taschenbuch Verlag BVT 76161, Berlin 2003, 922 S., 14,90 €, ISBN 3-8333-0114-7
»Harmonia Cælestis / Verbesserte Ausgabe / Marginalien«
Berlin Verlag, Berlin 2003, 1380 S., 52,00 €; ISBN 3-8270-0510-8
»Die Hilfsverben des Herzens« Roman.
Bibliothek Suhrkamp 1374, Frankfurt/Main 2004, 132 S., 11,80 €; ISBN 3-518-22374-7
»Verbesserte Ausgabe«
Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki
Berlin Verlag, Berlin 2003, 372 S., 22,00 €, ISBN 3.8270-0497-7; Berliner Taschenbuch Verlag BVT, Berlin 2004, 376 S., 9,90 €; ISBN 3-8333-0135-x
»Wer haftet für die Sicherheit der Lady?« Erzählung.
Aus dem Ungarischen von Hans H. Paetzke
Fischer Tb. 9231, Frankfurt/Main 1989, 160 S., 4,90 €; 3-596-29231-x
Kertész, Imre / Esterházy, Péter
»Eine Geschichte. Zwei Geschichten«
Aus dem Ungarischen von Kirsten Schwamm und Hans Skirecki
Residenz Verlag, Salzburg 1994, 80 S., (vergriffen); Berliner Taschenbuch Verlag BVT 76123, Berlin 2002, 192 S., 6,00 €, ISBN 3-8333-0206-2