1976 wird der Schweizer Schriftsteller und Architekt Max Frisch mit dem Friedenspreis ausgezeichnet. Die Verleihung findet am Sonntag, den 19. September 1976, in der Paulskirche zu Frankfurt am Main statt. Die Laudatio hält Hartmut von Hentig.
Begründung der Jury
Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahre 1976
Max Frisch,
dem unerschrockenen Mann und geschworenen Feind von Selbstzufriedenheit, Vorurteilen und kollektiven Zwängen. Max Frisch benützt seine große Kunst als Instrument der Mahnung und Warnung, zu Provokation und Protest, für die Rechte des einzelnen, für Freiheit der Gedanken.
Er wird nicht müde, uns den Spiegel vorzuhalten, in dem wir erschrocken und betroffen unsere Unfähigkeit erkennen, den Frieden unter den einzelnen und den Gruppen zu wahren und zu festigen.
Chronik des Jahres 1976
+++ In der Frankfurter Rundschau wird Anfang Januar 1976 ein Gedicht mit dem Titel Artikel 3 von Alfred Andersch veröffentlicht, in dem er scharfe Kritik an der Praxis des Radikalenerlasses in der Bundesrepublik übt. +++ Der Bundestag verabschiedet im Februar ein Reformgesetz zum Paragraphen 218. Danach wird bei einem Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten nach der Empfängnis bei ethischer, medizinischer oder sozialer Notlage der Frau Straffreiheit gewährt. +++ Am 9. Mai wird Ulrike Meinhof erhängt in ihrer Zelle aufgefunden. Laut Angaben der Gefängnisleitung beging sie Suizid. +++ In Kambodscha wird Anfang April der Führer der radikalkommunistischen Roten Khmer, Khieu Samphan, neues Staatsoberhaupt. +++ Ministerpräsident wird Pol Pot. Im Verlauf der folgenden radikalen Umgestaltung der Gesellschaft werden zwischen ein und zwei Millionen Menschen ermordet. +++ Im Soweto bei Johannesburg brechen Mitte Juni schwere Anti-Apartheid-Unruhen aus. Bei den Auseinandersetzungen sterben mehr als 170 Menschen, tausende Schwarze werden inhaftiert, vor allem Anhänger des verbotenen ANC, dessen Führer Nelson Mandela seit 1962 inhaftiert ist. +++ Die Anti-Atomkraft-Bewegung formiert sich angesichts der Teilgenehmigung für den Bau des Kernkraftwerkes im niedersächsischen Brokdorf. Bei einer Demonstration Ende Oktober vor dem Baugelände kommt es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. +++ Während einer Tournee des Liedermachers Wolf Biermann durch die Bundesrepublik beschließt das Politbüro der DDR im November dessen Ausbürgerung. Begründet wird die Entscheidung damit, dass sich sein Programm gegen die DDR und den Sozialismus richte. In einer Petition protestieren dreizehn führende Intellektuelle der DDR gegen die Ausbürgerung. +++
Biographie Max Frisch
Der am 15. Mai 1911 in Zürich geborene Max Frisch muss wegen des Todes seines Vaters das Germanistikstudium abbrechen. Er arbeitet daraufhin als freier Mitarbeiter für die Neue Züricher Zeitung und reist 1933 in deren Auftrag erstmals ins Ausland. Seine Reise-erfahrungen verarbeitet er in späteren Werken.
1934 erscheint sein erster Roman, Jürg Reinhart. Zwei Jahre später beginnt Frisch ein Architekturstudium. Er eröffnet 1942 ein Architekturbüro in Zürich. Schon im ersten Jahr gewinnt er den ersten Preis in einem städtischen Wettbewerb für den Bau einer Freibadanlage, die heute als »Max-Frisch-Bad« unter Denkmalschutz steht. 1955 gibt er das eigene Architekturbüro auf, als ihm mit dem Roman Stiller ein internationaler Bucherfolg gelingt.
Kritiker und Leser sind gleichermaßen beeindruckt, wie Frisch mit Romanen wie Homo Faber (1957) und Dramen wie Biedermann und die Brandstifter (1958) die existentiellen Probleme des Individuums der postmodernen Gesellschaft thematisiert. So gehört er, neben Friedrich Dürrenmatt, zu den wichtigsten Vertretern der Schweizer Nachkriegsliteratur.
Politisch entwickelt sich Frisch nach 1945 zum Wortführer einer schweizerischen linken Intelligenz und zu einer Leitfigur der europäischen Sozialdemokratie.
Max Frisch stirbt am 4. April 1991 im Alter von 79 Jahren.
Aus der Friedenspreisrede
»Schüler und Lehrlinge, sogar Studenten, befragt nach ihren Gedanken über die Aufgaben einer Demokratie, zucken heute die Achsel. Sie wissen, was es sie kosten kann, wenn sie Gebrauch machen von dem verfassungsmäßigen Recht auf Meinungsfreiheit.
Daß es gelungen ist, sogar die Jugend in die Resignation zu zwingen, ist kein Triumph der Demokratie. Die hektische Suche nach dem Verfassungsfeind, wobei man sich selber für verfassungstreu hält, ohne die großen Versprechen der Verfassung zu erfüllen, die Suche nach dem Sündenbock also, begleitet von dem pharisäerhaften Erbarmen mit den Dissidenten anderswo, kennzeichnet eine Gesellschaft, die Angst davor hat, daß ihr Bekenntnis, das demokratische, beim Wort genommen wird: eine Profit-Konkurrenz-Gesellschaft mit demokratischem Vokabular, wobei es eine Lüge wäre zu sagen, eben die Konkurrenz garantiere ja, daß die Leistung entscheide; es bleibt, wie liberal man sich in der Rede auch gibt, eine Konkurrenz zwischen Bevorzugten und Benachteiligten.
Um aus der öffentlichen Diskussion zu verbannen, was die Bevorzugten ungern hören, nämlich Kritik an der veritablen Struktur unsrer Gesellschaft und Zielvorstellungen, demokratische, genügt heute schon da und dort die Etikette: links, wie es einmal genügt hat, vor langer Zeit, zu sagen: entartet.
Nun meine ich nicht, daß Geschichte sich haargenau wiederhole. Ich beobachte bloß: ein Klima des Ressentiments. Kein Fememord; nur eben eine Allergie gegenüber politischem Bewußtsein, das zu analysieren vermag. Keine Schutzhaft; nur eben die Verweigerung des Diskurses, hierfür genügt zunächst der Radikalen-Erlaß, die Legitimation eines Ressentiments durch den administrativen Pakt mit diesem Ressentiment.«
Laudator Hartmut von Hentig
Bibliographie